Mittelstandsdebatten gibt es fast überall in der westlichen Welt, besonders virulent in den USA. Aber auch in Deutschland wird über die vermeintliche oder tatsächliche Erosion der Mitte leidenschaftlich gestritten. Der hiesigen Politkultur folgend läuft die Debatte in der Schweiz ruhiger ab. Haben die leiseren Töne aber auch mit der objektiven Situation des Schweizer Mittelstands zu tun?

Der Schweizer Mittelstand ist tatsächlich ein Sonderfall. Die mittleren Löhne sind in den letzten zwei Dekaden inflationsbereinigt um weitere sechs bis acht Prozent gestiegen. Die weltweit festgestellte Zunahme der Ungleichheit von Einkommen und Löhnen fand in der Schweiz nur sehr abgeschwächt statt. Und noch wichtiger: Abgesehen von einem strukturellen Arbeitslosensockel herrscht in der Schweiz Vollbeschäftigung. Was vielerorts diagnostiziert und angeprangert wird, wenn auch nicht immer begründet, nämlich die Ausdünnung oder gar der Niedergang der Mittelschichten, ist hierzulande in reinen Zahlen nicht auszumachen.

Diese objektive Situation kontrastiert auffallend mit der Stimmung in der Mitte der Gesellschaft, denn auch im Schweizer Mittelstand ist eine starke Unzufriedenheit und Verunsicherung spürbar. Sie reicht von Klagen ob ständig mehr Belastungen über Abstiegsängste bis hin zur Empörung über das Verhalten der «oberen Zehntausend».

Diese Ausgangslage war für Avenir Suisse Anlass für eine vertiefte Untersuchung zum Schweizer Mittelstand. Sie liegt nun als Buch vor: «Der strapazierte Mittelstand – Zwischen Ambition, Anspruch und Ernüchterung» beleuchtet die vielfältigen Facetten dieser Debatte. Die Themen reichen von den grossen weltwirtschaftlichen Trends und deren Auswirkungen auf den Mittelstand über die Position der Schweiz im internationalen Kontext und das Wirken des Staates bis hin zu den gesellschaftlichen Veränderungen und Wertvorstellungen.

Es zeigt sich darin, dass die Klagen aus der Mitte durchaus einen realen Hintergrund haben. Der Schweizer Mittelstand ist relativ zu den Rändern der Gesellschaft zurückgefallen. In den letzten 20 Jahren haben nicht nur die Einkommen der obersten Schicht stärker zugenommen als jene der Mittelschicht, sondern auch jene der Unterschicht. Dazu kommt: Der Staat pflügt den Mittelstand gründlich um. Dieser wird durch staatliche Umverteilungspolitik mit Steuern, einkommensabhängigen Tarifen, Subventionen und Verbilligungen an den unteren Rand der mittleren Einkommen gedrückt. Der Nutzen dieser Politik kommt nämlich zum grössten Teil der Unterschicht zugute, die beinahe auf das Niveau des unteren Mittelstandes angehoben wird. Dadurch entsteht ein massives Anreizproblem: Durch die hohe Abgabelast wird dem Mittelstand der wirtschaftliche Aufstieg stark erschwert, oft sogar verunmöglicht. Die Ambition aufzusteigen – ein Wesensmerkmal des Mittelstandes –, macht darum oft der Ernüchterung Platz.

In einem Land, dessen Staatsverständnis und Selbstbild sich stark aus der Mitte heraus definiert, muss dies zu reden geben. Die hiesige Mittelstandsdebatte ist also keine typisch helvetische Luxusdiskussion.

Dieser Artikel erschien am 22.November 2012 in der Zeitschrift «Cigar».