Wachstumskritik hat Hochkonjunktur – auch Jahrzehnte nach dem Bestseller «Die Grenzen des Wachstums» des Club of Rome wird die stetig steigende Prosperität von Skeptikern begleitet: Der materielle Wohlstand führe in die Sackgasse, Überbevölkerung drohe und natürliche Ressourcen würden übernutzt.
«Was fehlt, wenn alles da ist», fragte eine andere Publikation vor Kurzem. Der Titel ist Mahnmal des diffusen Gefühls, dass wir nichts Zusätzliches bräuchten. Man könnte diese Art der Zukunftsangst als Quengelei abtun. Der Gefahr, die von ihr ausgeht, würde man damit aber nicht gerecht. Wachstumsskepsis negiert den Dreh- und Angelpunkt liberaler Politik, die gerade darauf abzielt, den Fortschritt zu fördern. Grund genug also für eine Analyse, warum es die fortschrittskritischen Vorlagen aufs politische Parkett schaffen, und für einen Anlauf, zumindest einigen der weitverbreiteten Ängste entgegenzutreten.
Zunehmend wirtschaftskritisch
Vorlagen der direkten Demokratie würden immer wirtschaftsfeindlicher, so eine These. Tatsächlich stimmt das bedingt: Wirtschafts- und damit wohlstandskritische Vorlagen sind kein neues Phänomen. Sie sind vielmehr seit langem die Regel. Zwischen 1946 und 2015 etwa waren von 133 wirtschaftsrelevanten Initiativen auf nationaler Ebene nicht weniger als 130 wirtschaftskritisch. Und ein Grossteil der Referenden hat versucht, wirtschaftsfreundliche Vorlagen über Bord zu werfen. In Anbetracht dieser Flut von Versuchen, die Bevölkerung zu einem wirtschaftsfeindlichen Abstimmungsverhalten zu bewegen, scheint die Annahmequote überraschend gering. Bei Volksinitiativen waren es insgesamt nur 8 Prozent, und bei Referenden mit 32 Prozent zumindest nicht die Mehrheit. Die Herausforderungen durch wirtschaftskritische Vorlagen sind keineswegs neu, aber die Dringlichkeit, dagegen anzutreten, ist gestiegen. Denn alleine von 2013 bis 2017 stimmte der Souverän über insgesamt 18 Vorlagen ab, die die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen stark tangierten.
Zu erfolgreich?
Auch wenn man angesichts der täglichen Medienberichterstattung daran zweifeln könnte: Es geht uns nach wie vor gut in der Schweiz. Unser Wohlstand ist – nur schon im innereuropäischen Vergleich – bemerkenswert hoch. Das zeigt etwa ein kleines Gedankenexperiment, bei dem man die Schweizer Bevölkerung ihrem Einkommen entsprechend in zehn gleich grosse Gruppen unterteilt. Selbst die aus dieser Warte betrachtet Ärmsten der Schweiz gehören noch zum europäischen Mittelstand. Und die aus schweizerischer Sicht mittleren Einkommen zählen innerhalb Europas bereits zur Gruppe der Reichen. Etwas überspitzt könnte man also sagen, dass es in der Schweiz vor einem europäischen Hintergrund keine Armen gibt. Wer wollte da schon für mehr Wachstum weibeln? Und nicht nur das: Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass mehr Wohlstand durchgehend zu mehr Lebenszufriedenheit führt – und dies auch in bereits ökonomisch «reichen» Ländern. Woher also die Wohlstandsmüdigkeit? Drei Erklärungsansätze können eine Erklärung bieten:
Wachstum und Umweltschutz sind keine Gegensätze
Angesichts der vielen negativ konnotierten Berichte zu Ressourcenverbrauch über Luft, Boden, Wasser und Biodiversität könnte man fast glauben, dass wir die Umwelt in der Schweiz zugrunde richten. Das Gegenteil ist der Fall: Umweltanalysen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass seit den 1990er Jahren etliche Probleme entschärft wurden Die Luftqualität ist heute generell besser als vor 20 Jahren, Luftschadstoffe und Feinstaubemissionen sind rückgängig, die Wasserqualität in den Seen steigt dank Rückgang der Nährstoffeinträge, der Trinkwasserverbrauch nimmt ab, die in Deponien entsorgte Abfallmenge stagniert, statt zuzunehmen, und die Treibhausgasemissionen wurden stabilisiert. Das hat natürlich auch mit dem Übergang zur Dienstleistungswirtschaft zu tun. Aber es erfolgte trotz Wachstum – oder vielmehr dank ihm. Der Grund dafür ist simpel: Die Nachfrage nach einer intakten Umwelt nimmt mit dem Einkommen zu.
Wir leben länger und arbeiten weniger
Wachstum ist nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ. Wachstum im weiteren Sinne hat so viele neue Errungenschaften mit sich gebracht, dass es schwer ist, einige wenige Beispiele auszuwählen. Die Entwicklung der Kindersterblichkeit zum Beispiel ist ein guter, weil weltweit vergleichbarer Wohlstandsindikator. Sie ist in der Schweiz seit 1970 um fast 80 Prozent zurückgegangen. Zudem: Wir leben länger. 2013 Geborene zum Beispiel dürfen in der Schweiz mit einer durchschnittlichen Lebensdauer von über 89,5 Jahren rechnen, das ist weltweit einer der höchsten Werte. Und da ist noch etwas: Wir arbeiten pro Jahr auch noch weniger: Seit 1950 hat die jährliche Arbeitszeit im Mittel um 420 Stunden abgenommen, während der Lebensstandard stetig gestiegen ist: Nach Abzug der Ausgaben für den Grundbedarf (Essen, Wohnen, Kleidung) blieben einem durchschnittlichen Haushalt 1912 gerade noch 14 Prozent des Budgets übrig. Heute kann mehr als die Hälfte des Haushaltsbudgets für Güter und Dienstleistungen verwendet werden, die über die Deckung der Grundbedürfnisse hinausgehen.
So geht es übrigens nicht nur uns: Dank der Globalisierung können auch die ärmsten Staaten von Wirtschaftswachstum profitieren. Die Armutsquote ist alleine zwischen 1981 und 2012 von weltweit 44 auf 13 Prozent gesunken. Die Tendenz ist seither unverändert. Der «Human Development Index» zeigt, dass die Zahl der Länder mit tiefem Entwicklungsstand auch über andere Themenbereiche kontinuierlich abnimmt. Darum bleibt nur noch die eine Frage: Wer will eigentlich den Fortschritt behindern und weshalb?
Nullwachstum senkt den Lebensstandard
Technischer Fortschritt und Wachstum haben uns nicht nur bessere Gesundheit und mehr Freizeit gebracht, sondern auch die materiellen Voraussetzungen für den heutigen Sozialstaat geschaffen. Gute Anschauungsbeispiele bieten dabei die aktuellen Debatten um Gesundheitskosten oder die Altersvorsorge. Wir haben uns an ein Schweizer System gewöhnt, dass im Kern institutionelle Fehler mit sich bringt: Obwohl versicherungsmathematisch trivial, drücken wir uns davor, die Altersvorsorge an geänderte Lebenserwartung, demografische Gegebenheiten und Zinsen anzupassen. Das Umverteilungssystem ist auf das Wirtschaftswachstum ausgerichtet – ironischerweise wird dieses gerade von den Promotoren dieses Systems als kritisch angesehen. Und bei steigenden Prämien für die Krankenversicherung geht ein Raunen durchs Land – ungeachtet dessen, dass die Qualität der Leistungen deutlich zugenommen hat. Ohne Wachstum hätten wir längst Abstriche bei der sozialen Sicherheit oder der medizinischen Versorgung in Kauf nehmen müssen, weil wir sie uns schlicht nicht mehr hätten leisten können.
Nicht in Selbstgefälligkeit verfallen
In Teilen des politischen Spektrums ist von einer positiven Grundhaltung gegenüber Wachstum, aber auch Globalisierung nicht viel zu spüren. Das hat vor allem damit zu tun, dass Marktwirtschaft nicht als das gesehen wird, was sie ist: Es geht nicht um Akkumulation von Kapital, sondern um Innovationen, um es in den Worten der US-Ökonomin Deirdre McCloskey zu sagen. Politische Pole vereinen sich in einer abwehrenden Haltung gegenüber Wachstum. Die Links-Konservativen machen es sich entgegen aller Evidenz zur Aufgabe, den Kapitalismus schlechtzureden. Den Rechts-Restaurativen widerstreben Veränderungen.
McCloskeys Beschreibung der Politik scheint auf die Schweiz durchaus zuzutreffen. Statt darum, wie zukünftiger Wohlstand geschaffen werden könnte, geht es viel zu oft darum, wie das, was wir heute haben, auf noch mehr Köpfe verteilt werden könnte. Dass der Wohlstandskuchen aber nur durch Wachstum grösser wird und nicht, indem wir das gleiche Kuchenstück auf immer mehr Personen aufteilen, geht dabei unter. Die Fortschritts- und damit einhergehende Veränderungsangst ist eine denkbar schlechte Vorbereitung für die Zukunft. Gerade weil wir nicht wissen, was die zukünftigen Herausforderungen für das Staatswesen sind, sollten wir offen sein für Weiterentwicklungen und keinesfalls in alten Denkmustern verharren. Das Verwalten der Gegenwart darf keine Zielgrösse sein.
Die Schweiz wieder in Schwung zu bringen, ohne dem Stillstand zu verfallen, ist wohl die Aufgabe der heutigen Zeit. Doch dass es uns einfach noch gut geht, mindert den Reformdruck, stellte erst kürzlich der liberale Wirtschaftsjournalist Rainer Hank in einem bemerkenswerten Beitrag in der FAZ fest. Denn anstelle der gesprochenen und geschriebenen Sonntagspredigten sollten wir uns beim Streiten vor allem auf konkrete Fragestellungen konzentrieren. Die drei folgenden Punkte wären ein guter Start dazu.
Wiederbelebung des Wettbewerbsgedankens nach innen
Dieser ist eigentlich Teil der Schweizer DNA, der föderalistische Wettstreit zwischen den Kantonen. Er birgt ungeheures Potenzial für Innovation und Fortschritt, garantiert Bevölkerungsnähe bei gleichzeitiger Berücksichtigung unternehmerischer Anliegen. Dieses System ist wieder zu stärken – ohne dabei in föderale Folklore zu verfallen. Das heisst aber auch, dass die Wettbewerbsintensität auch entscheidend zu stärken ist im immer noch vielfach geschützten Binnenmarkt, Stichwort Agrarsektor, Stichwort Dienstleistungen. Die Dichotomie der Schweizer Wirtschaft mit einer höchst wettbewerbsfähigen Exportwirtschaft und einem teilweise stark abgeschotteten Binnenmarkt mit staatlichen Eingriffen sollte der Vergangenheit angehören.
Zulassung des Wettbewerbs gegen aussen
Die aussenwirtschaftliche Offenheit und der Zugang zu ausländischen Märkten sind entscheidend für den Schweizer Wohlstand. Der aus Importen und Exporten kombinierte Aussenhandel stieg in den letzten 35 Jahren von 61 auf über 120 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Erstmals verdiente die Schweiz 1999 jeden zweiten Franken im Ausland. Die Summe der Exporte (Waren und Dienstleistungen) entsprach also 50 Prozent des BIP. Zuletzt lag dieser Anteil bei 70 Prozent. Als Land mitten auf dem europäischen Kontinent und in engster wirtschaftlicher Verflechtung mit unseren Nachbarländern sind wir auf stabile und zugleich dynamische Handelsbeziehungen mit der EU angewiesen. Doch sind wir wirtschaftlich nicht nur ein europäisiertes, sondern auch ein höchst globalisiertes Land. Im Sinne der Diversifikation des Wohlstandspotenzials gilt es, neue Märkte mit Freihandelsabkommen (FHA) weiter zu erschliessen. Wer sich der Weiterentwicklung der Beziehungen zu Europa mittels eines Marktzugangsabkommens und zur Welt via neue FHA entgegenstellt, spielt darum letztlich mit dem helvetischen Wohlstand.
Den Reformstau überwinden
Wichtige Reformen wie etwa die finanzielle Sicherung der Altersvorsorge oder ein international kompetitives Unternehmenssteuersystem haben zunehmend einen schweren Stand. Verteilkämpfe statt Fortschritt und damit Wohlstandsmehrung dominieren den Diskurs. Ersteres wird auf Dauer aber die Prosperität nicht sichern und zunehmend die soziale Kohäsion negativ tangieren. Der Wille zu Modernisierungen muss wieder obsiegen über jene Kreise, die am Status quo festhalten.
Dieser Text ist in der Zeitschrift «Twice» der Handelskammer beider Basel in der 9. Ausgabe vom Herbst 2018 erschienen.