Nach zähem Ringen und gleichsam als «Last-minute-Weihnachtsgeschenk» zauberten das Vereinigte Königreich und die EU ein dickes Paket aus dem Hut: Das knapp 1250 Seiten lange Abkommen regelt seither die Beziehungen zwischen den beiden Parteien. Das Vereinigte Königreich hat damit – seit der Abstimmung über den Austritt – dreieinhalb Jahre gebraucht, um eine neue Lösung zu finden.

Die Schweiz und die EU streben keine neue Lösung an, sondern wollen die bestehenden bilateralen Verträge weiterentwickeln. Man würde meinen, eine vergleichsweise einfache Sache. Doch die beiden Verhandlungspartner ringen seit über sechs Jahren um eine Lösung, seit über zwei Jahren liegt der Ball dazu in Bern. 

Erwartungsgemäss stossen die nun getroffenen Regeln zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU auf grösstes Interesse. Notorische Schweizer EU-Skeptiker jubilierten ob des britischen Verhandlungserfolgs und fordern sofortige Neuverhandlungen mit der EU. Doch was hat das Vereinigte Königreich erreicht, und in welcher Position befindet sich die Schweiz? 

Keine Gleichwertigkeit des Schweizer und UK-Weges  

Partiell Aufschluss darüber gibt eine Auflistung der Europäischen Kommission, die vor kurzem publiziert wurde. Sie vergleicht anhand mehrerer Kriterien die EU-Mitgliedschaft mit der zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich getroffenen Vereinbarung. Im Gegensatz zur Mitgliedschaft beinhaltet das Abkommen für das Vereinigte Königreich (und wohl auch umgekehrt) nur noch wenige präferentielle Rechte – was als Folge des Brexit-Volksentscheids auch beabsichtigt war. Um das neue Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU mit der Schweiz zu vergleichen, wurde die nachfolgende Tabelle ergänzt. 

Vergleich EU-UK Abkommen, bilaterale Verträge und EU-Mitgliedschaft

Vereinigtes Königreich
Schweiz
EU-Mitgliedschaft
inkl. Schengen
Freier Personenverkehr und Schengen
Abschaffung der Grenzkontrollen
x
Heimtierausweise (Veterinärabkommen)
x
Visumfreies Reisen (90 Tage in
einem Zeitraum von 180 Tagen)
Visumfreies Reisen (mehr als 90 Tage)
x
Recht auf Arbeit, Studium und
Leben in einem anderen EU-Land
Abschaffung der Roaminggebühren
x
x*
Warenhandel
Reibungsloser Handel
x
✓**
Keine Zollsätze und Kontingente
Keine Zollformalitäten
Keine gesundheitspolizeiliche und
pflanzenschutzrechtliche Kontrollen
x
✓**
Keine Ursprungsregeln bzw. kumulierbar
Fischereiabkommen
na
Nutzung der EU-Freihandelsabkommen
x
x
Handel mit Dienstleistungen
Erbringung von Dienstleistungen während
90 Tagen
Europäischer Pass für Finanzdienstleistungen
x
x*
Einfache Anerkennung von Berufsqualifikationen
x
Luftverkehr
Einheitlicher europäischer Luftraum,
uneingeschränkte
Freiheiten
x
Bilaterale Fünfte Freiheiten für
Extra-EU-Luftfrachtverkehr
Landverkehr
Einheitlicher Verkehrsbinnenmarkt
für Transportunternehmer
x
Beförderungen im Dreiländerverkehr
Energie
Gemeinsamer Energiebinnenmarkt
x
x*
Energiehandelsplattformen
EU-Programme
Zugang zu Erasmus
x
Zugang zu NextGenerationEU, SURE
x
x
Verschlüsseltes militärisches Galileo-Signal
x
Zugang zu Horizon Europe
✓**
Legende
EU-Mitglied bzw. gleiche Rechte wie ein EU-Mitglied
Besondere Bedingungen
x Keine präferentiellen Bedingungen
na Nicht anwendbar
* Könnte im Nachgang zum Rahmenabkommen ausgehandelt werden
** Wäre ohne das Rahmenabkommen kurz-/mittelfristig gefährdet
Quellen : Eigene Darstellung basierend auf Europäische Kommission (2020)

Es ist evident, dass das Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nicht mit den über 120 Abkommen der Schweiz mit der EU verglichen werden kann. Es ist, als würde man einem englischen Blue Stilton ein Schweizer Greyerzer gegenüberstellen – beides sind Käse, doch im Geschmack unvergleichbar.

Vorweggenommen hat dies EU-Verhandlungsführer Michel Barnier bereits 2017, indem er die verschiedenen, existierenden Modelle der Zusammenarbeit mit der EU mit der Negativliste der Briten – was sie keinesfalls eingehen wollten – kombinierte. Das Resultat ist eine Treppe, bei der die drei EWR-Mitgliedsstaaten Norwegen, Island und Liechtenstein erwartungsgemäss am engsten zur EU positioniert sind, die Schweiz folgt auf der nächsten Stufe (vgl. Abbildung). Das erreichte Abkommen mit dem Vereinigten Königreich kann in dieser Darstellung am ehesten mit einem der Freihandelsabkommen der EU – wie es beispielsweise mit Südkorea oder Kanada besteht – verglichen werden.

Modelle des Marktzugangs und der Zusammenarbeit mit der EU

Quelle: Barnier (2017)

Die bilateralen Abkommen hingegen repräsentieren viel mehr als partielle Marktzugangsabkommen. Sie sind ein massgeschneidertes Modell der Zusammenarbeit mit den für die Schweiz wirtschaftlich bedeutendsten, geografisch am nächsten liegenden und kulturell am engsten verbundenen Ländern. Ein Stopp der Weiterentwicklung des bilateralen Weges – schliesslich entwickelt sich ein Rechtsraum wie der Binnenmarkt weiter – lässt den Wert des Schweizer Vertragspaketes aber erodieren. Das Vereinigte Königreich wird vor der gleichen Herausforderung stehen, mit dem nun abgeschlossenen Abkommen ist das Thema EU nicht abgehakt. Punktuelle Anpassungen oder gar Erweiterungen des Vertragswerkes werden in den kommenden Jahren diskutiert werden müssen, ausser man nimmt den schleichenden Rückfall auf die WTO-Handelsprinzipien bewusst in Kauf. 

Ein Freihandelsabkommen wäre ein Rückschritt 

Kritiker des Rahmenabkommens fordern, das 1973 in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit der EU aufzudatieren. Die Schweiz würde damit auf das Modell des Vereinigten Königreiches setzen. Dies wäre ein Systemwechsel und bedeutet, den bisher erfolgreichen und in rund einem Dutzend Abstimmungen vom Volk bestätigte bilaterale Weg zu verlassen. Selbst ein umfassendes Freihandelsabkommen, das definitionsgemäss auf den Marktzugang beschränkt ist, wäre ein klarer Rückschritt zu den Bilateralen. Dies hielt der Bundesrat bereits 2015 in einem Bericht fest, als Antwort auf das Postulat der damaligen Ständerätin Karin Keller-Sutter.  

Im Lichte dessen ist es umso fataler, dass sich der Bundesrat – statt die Weiterentwicklung des bilateralen Weges mit Überzeugung zu verfolgen – seither kaum mehr aus der Deckung wagt. Dies gab und gibt notorischen EU-Skeptikern Raum, ihre Interpretation des Rahmenabkommens im kollektiven Bewusstsein zu verankern. Das entwickelte Narrativ eines «toten Abkommens» wird dabei von den meisten Medien unkommentiert übernommen, die Chancen – wie eine höhere Rechtssicherheit oder der Abschluss neuer sektorieller Marktzugangsabkommen – bleiben im Hintergrund. Dabei drängt die Zeit, insbesondere dem Stromnetz der Schweiz droht ohne Stromabkommen mit der EU mittelfristig der Kollaps.  

Es ist Zeit zu handeln 

Kein Rahmenabkommen heisst nicht, dass der Status quo gewahrt wird. Die wertschöpfungsstarke Schweizer Medizintechnikindustrie wird dies in den nächsten Monaten als Erste zu spüren bekommen. Ausfuhren in die EU werden mehr Zeit und Geld kosten, dies beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit. Investitionen im EU-Markt werden attraktiver, zulasten des Standortes Schweiz. Bern muss sich jetzt bewegen. Lange genug hat man verhandelt, lange genug warten Unternehmen in der Schweiz auf eine Antwort, wie es im Verhältnis zum wichtigsten Exportmarkt weitergeht.