1:12-Initiative, Mindestlohn-Initiative und kämpferische Parolen am 1. Mai: Die Lohn-Frage wird zum zentralen politischen Thema. Besteht wirklich Handlungsbedarf? Wir stellen einem liberalen und einem linken Ökonomen fünf identische Fragen

1. Werden die Grossverdiener in der Schweiz immer reicher?

Patrik Schellenbauer (Avenir Suisse): Im langen Zeitraum gesehen stimme ich der Aussage nicht zu. So lag der Anteil der Top-Einkommen (die höchsten 1%) am Gesamteinkommen in den 60er-Jahren höher als in der letzten Dekade, dasselbe gilt für die 30er-Jahre. Richtig ist, dass die hohen Löhne seit 1995 deutlich gestiegen sind. Aber sollte uns das Sorgen machen? Die Annahme, dass kleine und mittlere Löhne profitieren würden, wenn die Managergehälter sinken, ist falsch. Davon profitieren allenfalls die Aktionäre, wir sehen einen Verteilkampf zwischen Arbeit und Kapital.

Daniel Lampart (Gewerkschaftsbund): Lohnerhöhungen gab es in den letzten Jahren vor allem für die Grossverdiener. Heute leben in der Schweiz über 2500 Grossverdiener mit einem Salär von mindestens 1 Million Franken. 1997 waren es knapp 500. Hauptursache sind die Bonus-Lohnsysteme. Weil die Manager und Spezialisten glauben, dass es der Firma nur wegen ihnen gut geht, zahlen sie sich die grössten Boni aus. Hätten die Firmen klassische Lohnsysteme mit generellen Lohnerhöhungen, ginge das nicht.

2. Werden die Kleinverdiener immer ärmer?

Schellenbauer: Nein, das ist falsch. Unsre Analysen zeigen sehr sicher, dass die ganz tiefen Löhne im Vergleich zu den mittleren Löhnen aufgeholt haben. Erfreulicherweise schlägt sich dies und die abgesunkene Arbeitslosigkeit auch in sinkenden Armutsquoten nieder, wie ein Bericht des Bundesamtes für Statistik unlängst feststellte: Gemäss der SKOS-Richtlinie waren 2010 7,9% der Bevölkerung arm, 2008 waren es noch 9,1%. Das entspricht einer Abnahme um 70 000 Personen. Zudem hat sich die Armutslücke spürbar geschlossen, d.h. die Einkommen der Betroffenen liegen weniger weit von der Armutsgrenze entfernt.

Lampart: Ein Fünftel der Schweizer Erwerbstätigen kommt in Finanznot wenn eine ausserordentliche Ausgabe von 2000 Franken, etwa für den Zahnarzt, nötig wird. Das spiegelt die Probleme im Land. Die tiefen und mittleren Löhne sind in den letzten Jahren unterdurchschnittlich gestiegen. Dank der Gewerkschaftskampagne «Keine Löhne unter 3000 Franken» ist die Situation nicht noch schlimmer Sie verhinderte, dass die tiefen Einkommen komplett abgehängt wurden. Wie das leider in anderen Ländern der Fall war.

3. Der Mittelstand gilt als Verliererder letzten Jahrzehnte. Trifft dies wirklich zu?

Schellenbauer: Es sind tatsächlich die mittleren Löhne, die in letzter Zeit am wenigsten zulegen konnten. Weil die Steuer- und Abgabenlast mit mittlerem Einkommen schon recht hoch ist, führt dies im Mittelstand verständlicherweise zu Unmut oder gar Frustration. Denn umgekehrt profitiert der Mittelstand weniger von Zuschüssen wie der Verbilligung der Krankenkassen, tiefen Krippentarifen oder vergünstigtem Wohnraum. Der Abstand nach unten ist kleiner geworden.

Lampart: Die Schweizer Mittelschicht hat grösstenteils eine Berufslehre gemacht. Bei ihnen lief es punkto Lohn besonders schlecht. Von 2002 bis 2010 ist der Lohn für Berufsleute mit Lehre nach Abzug der Teuerung sogar leicht gesunken. Über 140 000 von ihnen verdienen sogar weniger als 4000 Franken im Monat (bei Vollzeit). Zusätzlich haben die höheren Krankenkassenprämien und Mieten die Haushalte finanziell belastet. Damit das Geld reicht, müssen in einer Familie heute beide Elternteile berufstätig sein.

4. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Einkommensschere arm/reich in der Schweiz, verglichen mit anderen Industrienationen?

Schellenbauer: International gesehen stehen wir allen Unkenrufen zum Trotz hervorragend da. Ausser den skandinavischen Ländern schafft es kein Land so gut wie die Schweiz, einen so hohen Wohlstand hervorzubringen und diesen gleichzeitig so breit zu verteilen. Die Verteilung der Vollzeitlöhne ist in der Schweiz sogar noch gleichmässiger als in den nordischen Staaten. Der Schlüssel dazu ist der flexible Arbeitsmarkt. Auch die Behauptung, die Schere habe sich in letzter Zeit massiv geöffnet, ist schlicht falsch.

Lampart: Auch in der Schweiz ist die Einkommensschere aufgegangen. Die hohen Einkommen und Grossverdiener sind lohnmässig davongezogen. Dank dem Einsatz der Gewerkschaften haben wenigstens die tiefen Einkommen mit den mittleren Schritt gehalten. Das ist nicht in allen Ländern gelungen. Druck gibt es aber auf die tiefen Löhne in Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Gerade die reichen Besitzer der grossen Kleider- und Schuhgeschäfte weigern sich, einen GAV abzuschliessen.

5. Zukunftsblick: Gehen Sie davon aus, dass sich die Schere in den nächsten Jahren eher öffnet oder schliesst?

Schellenbauer: In den letzten 3 Jahren ist die Ungleichheit in der Schweiz eher zurückgegangen. Ich erwarte für die nächste Zeit eine stabile Situation. Sorgen macht mir etwas anderes: Mit den geforderten Eingriffen in den Arbeitsmarkt (Mindestlöhne, 1:12, Sozialplanpflicht) sägen wir am Ast, auf dem wir alle sitzen. Löhne sind eben nicht nur Einkommensgrundlage, sondern auch Preise für Arbeitsleistungen und Qualifikationen. Es ist der grosse Irrtum der Linken, man könne ohne negative Folgen an Löhnen herumschrauben. Mindestlöhne von 22 Franken pro Stunde nützen kurzfristig jenen Kleinverdienern, die Arbeit haben, schaden langfristig aber gering Qualifizierten, die Arbeit suchen.

Lampart: Das hängt von der Politik ab. Die Schweiz hat es in der Hand, die Lage zu verbessern. Studien für alle Länder zeigen: Mit guten Gesamtarbeitsverträgen und Mindestlöhnen, mit generellen Lohnerhöhungen, aktiven Gewerkschaften und einer klugen Bildungspolitik kommen die Normalverdiener zu faireren Löhnen. In anderen Ländern fördert die Regierung beispielsweise Gesamtarbeitsverträge. In der Schweiz will der Bundesrat nichts tun. Obwohl sogar die Lohnsituation von vielen Leuten mit abgeschlossener Lehre schlecht ist.

Dieser Artikel erschien in der «Schweiz am Sonntag» vom 05.05.2013.
Mit freundlicher Genehmigung der «Schweiz am Sonntag».