Angesichts der explodierenden Staatsverschuldung in Europa und den USA entwickelt sich die deutsche Schuldenbremse nur ein Jahr nach ihrer Verankerung im Grundgesetz 2009 bereits zum Exportartikel. Der Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Junker, der EU-Kommissar Olli Rehn und der österreichische Finanzminister Josef Pröll haben sie bereits für ganz Europa gefordert. Ben Bernanke sieht sie als Vorbild für die USA, und auch in Frankreich und Grossbritannien wird das Modell diskutiert. Der ursprüngliche Erfinder der Schuldenbremse ist jedoch nicht Deutschland, sondern die Schweiz.

Die Eidgenossen haben die Schuldenbremse 2001 in einer Volksabstimmung auf nationaler Ebene mit 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen und 2003 in Kraft gesetzt. Auch mehrere Kantone haben eine eigene Schuldenbremse. Dank der dadurch erzwungenen Haushaltskonsolidierung während einer Wachstumsphase gelang es der Schweiz selbst in den Krisenjahren 2009 und 2010, Haushaltsüberschüsse zu erwirtschaften. Die Schweizer Staatsverschuldung relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) reduzierte sich seit Einführung der Schuldenbremse von 55 Prozent (2003) auf unter 40 Prozent (2010). Das ist eine beeindruckende Trendwende, denn noch in den 90er-Jahren war die Schuldenquote der öffentlichen Haushalte in der Schweiz kontinuierlich von 32 Prozent (1990) auf 55 Prozent gestiegen.

In vielen anderen Industrieländern hingegen stieg die Staatsverschuldung auch in den Boomjahren weiter an, und als die Krise kam, gerieten die öffentlichen Haushalte gänzlich ausser Kontrolle. Laut EU-Kommission werden 2010 sämtliche Euro-Staaten gegen den Stabilitätspakt verstossen. Dies steht in auffallendem Kontrast zum Nicht-EU-Mitglied Schweiz, das die Maastricht-Kriterien voll erfüllt.

In Ländern wie den USA, Grossbritannien, Spanien oder Irland scheinen inzwischen sogar jährliche Budgetdefizite von mehr als zehn Prozent des BIPs fast schon normal. Der IWF schätzt, dass die durchschnittliche Schuldenquote in den Industrieländern von 78 Prozent (2007) auf 106 Prozent (2010) emporgeschnellt ist. Bis 2014 werden sogar 114 Prozent erwartet. Es wird vermutlich eine ganze Generation dauern, um die Schulden aus diesem Konjunkturzyklus wieder abzutragen.

Mittlerweile haben die meisten Industrieländer eine „Schuldensättigung“ beziehungsweise einen „keynesianischen Endpunkt“ erreicht. Bei der Verschuldung jenseits dieses Schwellenwerts – die US-Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart schätzen ihn auf 90 Prozent Staatsschulden relativ zum BIP – entfalten weitere Defizite eine toxische Wirkung. Erstens kommt es zu einer Spirale zwischen Zinslasten und Neuverschuldung. So zahlt in Deutschland 2010 allein der Bund mehr als 40 Mrd. Euro Zinsen auf die Schulden der Vergangenheit. In normalen Jahren fliesst die Neuverschuldung also quasi unmittelbar in den Schuldendienst. Zweitens steigen die Risikoprämien für Staatsanleihen rasant an, wie derzeit in den Pigs-Staaten Portugal, Irland, Griechenland und Spanien. Drittens antizipieren Haushalte und Firmen wirtschaftliche Schwierigkeiten und höhere Steuern. Sie drosseln Konsum und Investitionen und neutralisieren so den Nachfrageimpuls höherer Staatsausgaben.

Eine verbindliche Schuldenbremse ist nicht nur ein geeignetes Instrument, um Erwartungen zu stabilisieren und diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Sie scheint auch unabdingbar, um Regierungen zu einem nachhaltigen Haushalten zu zwingen. Die Kurzfristorientierung der Politik sorgt dafür, dass sich die Befürworter antizyklischer Fiskalpolitik immer nur während der Abschwungphasen zu Wort melden. Wenn die Wirtschaft wieder wächst, wird das Prinzip des Antizyklischen rasch vergessen, um weitere Schulden aufzutürmen. So gab es zwischen 1969 und 2007 fast 40 Jahre lang über alle Konjunkturzyklen hinweg keinen einzigen ausgeglichenen Bundeshaushalt – von Überschüssen in guten Zeiten ganz zu schweigen. Auch die Demontage des Stabilitätspakts auf europäischer Ebene zeigt, dass man Regeln für nachhaltige Haushaltspolitik nicht den Politikern überlassen kann.

Einen ähnlich schmerzhaften Lernprozess hat man auch in der Geldpolitik durchlaufen. Nachdem die Politik in den 70er-Jahren kurzfristige Wachstumsimpulse immer wieder durch langfristige Inflation erkaufte, entschloss man sich, ihr dieses Instrument zu entziehen. Heute würde niemand mehr die Unabhängigkeit der Zentralbanken infrage stellen. In der Fiskalpolitik gibt es einen ganz ähnlichen Zielkonflikt, und auch hier hat die Politik immer wieder kurzfristige Wahlgeschenke auf Kosten zukünftiger Generationen finanziert. Dieses strukturelle Problem lässt sich nur durch eine Schuldenbremse lösen – oder aber durch einen wirklich wasserdichten Stabilitätspakt auf europäischer Ebene. Doch der ist auch nach dem Euro-Gipfel in der vergangenen Woche nicht in Sicht.

Die Schweiz hatte das Glück, die Schuldenbremse vor der Krise einzuführen. Deutschland ist zumindest in der günstigen Lage, dieses Instrument seit 2009 in der Verfassung verankert zu haben. Die Bundesregierung sollte den einsetzenden Aufschwung nutzen, um die Schuldenbremse nun auch beherzt anzuwenden.