«Raubbau» – «Ausbeutung» – «Verantwortungslosigkeit»: Die Vorwürfe von wirtschaftskritischen Kreisen an international tätige Unternehmen waren 2020 im Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) happig. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hat in der Folge tatsächlich ihr Misstrauen gegenüber dem Schweizer Unternehmertum kundgetan: 1,3 Millionen Stimmbürger wünschten sich eine staatlich verordnete, extraterritoriale Rechtssprechung – eigentliche «Schweizer Vögte in der Fremde». Die Abstimmung scheiterte schliesslich am Ständemehr. Überreste des Themas blieben jedoch auf dem Tisch. Im Dezember 2022 wurde eine Petition mit über 200’000 Unterschriften «für ein griffiges Konzernverantwortungsgesetz» eingereicht.
Woher kommt die Kritik an multinationalen Unternehmen? Ist sie berechtigt? Braucht es staatlich verschriebene Verantwortung? Oder nehmen die Unternehmen diese auch ohne Regulierung wahr?
Hohe Durchdringung der Schweizer Wirtschaft mit CSR-Regeln
Eine 2017 von Avenir Suisse durchgeführte Untersuchung hatte bereits damals eine hohe Durchdringung der Wirtschaft mit sogenannten Corporate-Social-Responsibility-Regeln (CSR-Regeln) ergeben. Untersucht wurden darin 85 relevante Schweizer Branchenverbände. Besonderes Augenmerk in der Auswahl wurde auf einen hohen internationalen Geschäftsanteil, einen Verdacht auf menschenrechtsverletzende Produktionsbedingungen oder Umweltsünden gelegt. Binnenorientierte Verbände wie z.B. die kantonalen Gewerbe- oder Bauernverbände sowie Industrie- und Handelskammern wurden nicht berücksichtigt.
Eine Aktualisierung der Analyse fördert in Sachen Verantwortung Positives zutage: Es ist ein eindeutiger Trend hin zu mehr expliziter Unternehmensverantwortung festzustellen – und dies ganz ohne staatlichen Zwang (vgl. Abb. 1). So ist in der untersuchten Stichprobe der 85 Branchenverbände die Abdeckung von CSR-Regeln von 68 auf 84 Prozent gestiegen. Das allgemeine Bewusstsein für explizite Unternehmensverantwortung scheint bei den Branchen grösser geworden zu sein. Ferner ist aus der Erhebung zu folgern, dass sich der Grossteil der zwischen 2017 und 2022 eingeführten Kodizes mit der Umweltthematik sowie gesellschaftlicher Verantwortung und Transparenz befassen. Der anteilsmässige Rückgang der Leitbilder, die Menschenrechte zum Thema haben, entspricht keiner absoluten Senkung, sondern zeigt nur eine relative Verschiebung.
Exponierte Branchen zeigen sich sensibilisiert
Gerade speziell exponierte Branchenverbände aus dem oft kritisierten Finanz- und Versicherungswesen (93%) oder aus dem Textil- (67%) und Rohstoffbereich (91%) sowie Nahrung (78%) und Tabak (100%) haben sich überdurchschnittlich häufig CSR-Regeln gegeben. Die weiteste Verbreitung dieser Regelwerke fand im untersuchten Zeitraum bei den «Life Sciences» statt. So verfügen in der untersuchten Stichprobe nun sämtliche Branchenverbände über ein entsprechendes Leitbild (vgl. Abb. 2). Die Anreizstruktur zur Selbstregulierung scheint demnach zu wirken. Insbesondere deshalb, da die Branchenverbände sich den eigenen Problemstellungen durchaus bewusst sind. Sie gelangen so zu viel spezifischeren und zielgerichteteren Lösungen als eine staatliche Regulierung, die mit einem Hammer jeweils gleich mehrere Nägel treffen muss.
Verfügt eine Branchenorganisation nicht über entsprechende Regelwerke, kann damit nicht automatisch auf die Mitglieder des entsprechenden Verbandes geschlossen werden. Die Durchdringung der Schweizer Wirtschaft mit CSR-Regeln wird deshalb in dieser Untersuchung unterschätzt. Denn vielfach auferlegen sich Schweizer Unternehmen entsprechende Kodizes selber. Diese werden durch interne «Compliance Officers» kontrolliert. Erwartet wird, dass diese Mitarbeitenden neben den gesetzlichen auch die weitergehenden gesellschaftlichen und ökologischen Verpflichtungen eines Unternehmens im Rahmen der CSR kritisch überwachen. Als Indiz für die steigende Bedeutung kann hier die Anzahl ausgeschriebener Stellen hinzugezogen werden. Wurden Ende 2017 1408 offene Arbeitsplätze im Bereich Compliance angeboten, sind es anfangs 2023 2422 – eine Zunahme von 72% (Stichtag 08.03.2022; JobCloud.ch).
Wichtige Rolle von Medien und Öffentlichkeit
Neben internen Sicherstellungsmechanismen kommt auch externen Akteuren eine wichtige Rolle zu. So üben Nichtregierungsorganisationen und Medien durch ihre kritischen Recherchen und Publikationen eine Überwachungsfunktion aus, um Missstände aufzudecken und öffentlichkeitswirksam anzuprangern. Dadurch entstehen zusätzliche Anreize für Unternehmen, sich aus eigener Anstrengung strenge CSR-Regeln aufzuerlegen, sie durchzusetzen und zu kontrollieren. Hinzu kommt die anfangs Jahr in Kraft getretene Verschärfung der Transparenz- und Nachhaltigkeitsregeln. Oder um die gesamte Anreizstruktur mit den Worten von Warren Buffet zu veranschaulichen: «Wir können uns leisten, Geld zu verlieren, selbst viel Geld; aber wir können es uns nicht leisten, auch nur ein Fünkchen Reputation zu verlieren.»
Schweizer Unternehmen in der Verantwortung
Die wirtschaftskritischen Kreise mögen zwar in Einzelfällen berechtigte Kritik vorbringen – auf die Schweizer Wirtschaft im Allgemeinen trifft sie jedoch nicht zu. Intrinsische «Händlermoral», explizite Branchenregelwerke, wirtschaftliche Anreize und extrinsische private Überwachungsinstitutionen schaffen in der Schweizer Wirtschaftsstruktur Unternehmen, die aus eigenem Antrieb Verantwortung übernehmen und leben – dies ganz ohne staatliches Korsett.
Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in unseren Publikationen: «Schweizer Vögte in der Fremde» oder «Unverantwortlich? Rolle und Wahrnehmung des Schweizer Unternehmertums in Zeiten des Umbruchs».