Grenzgänger: Entwicklung seit 2002

Schätzungsweise ein Viertel aller Grenzgänger Westeuropas pendelt in die Schweiz (Nerb et al., 2009). Damit sind die 278’000 Grenzgänger zwar bloss etwas mehr als 5% der in der Schweiz beschäftigten Personen, doch ist ihre Präsenz regional stark konzentriert: Auf die Kantone Genf, Tessin und die beiden Basel entfallen rund zwei Drittel aller Grenzgänger. Sie machen denn in diesen Regionen auch zwischen einem Fünftel und einem Drittel aller Beschäftigten aus. Und selbst gesamtschweizerisch sind die Grenzgänger bedeutsam, wenn man bedenkt, dass sie 18% der beschäftigten Ausländer ausmachen. Es ist deshalb naheliegend, dass die Grenzgänger in Diskussionen über die «Lenkung» der Zuwanderung eine Rolle spielen, auch wenn – oder gerade weil – sie Pendler und nicht Migranten sind.

Warum das rasante Wachstum?

Seit Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens (FZA) zwischen der EU und der Schweiz im Jahr 2002 hat die Zahl der Grenzgänger um 70% zugenommen (siehe Abbildung), wobei der Anstieg in Genf (110%) und im Tessin (84%) deutlich überdurchschnittlich war. Damit war ihre Zunahme deutlich stärker als jene der in der Schweiz wohnhaften erwerbstätigen Ausländer (plus 21,5%). Beträchtliche, wenn auch nicht ganz so hohe Zuwachsraten bei den Grenzgängern verzeichneten zur gleichen Zeit aber auch andere europäische Grenzregionen, z. B. Luxemburg (plus 60%) oder Liechtenstein (plus 67% seit 2000). Erfolgreiche kleinere Länder sind fast zwangsläufig durch einen hohen Anteil von Grenzgängern gekennzeichnet.

Worauf lässt sich der spektakuläre Anstieg zurückführen? Viele sehen die Ursache beim FZA. In der Tat wurden mit dem FZA Restriktionen zum grenzüberschreitenden Pendelverkehr abgebaut, unter anderem:

_Die Verpflichtung der Grenzgänger, täglich zwischen Wohn- und Arbeitsort zu pendeln (ab 2002). Heute dürfen Arbeitnehmer mit G-Bewilligung auch Wochenaufenthalter sein.
_ Die Abschaffung des Inländervorrangs (ab 2004).
_ Die Aufhebung der Grenzzonen (ab 2007). Bis 2007 wurde der Grenzgängerstatus nur gewährt, wenn Wohnort und Arbeitsort maximal 30 Kilometer von der Grenze entfernt lagen.

Dennoch dürften auch weitere Faktoren zur Zunahme der Grenzgängerbeschäftigung beigetragen haben. Diese lassen sich in zwei Kategorien einteilen:

Pull-Faktoren: Faktoren im Inland, die das Grenzgängerpendeln begünstigen. Dazu gehören die höheren Löhne in der Schweiz (die Euro- Krise hat die reale Kaufkraft der Schweizer Löhne im Ausland seit 2009 um gut 20% erhöht), die, sinkenden Pendelkosten und die hohen hiesigen Immobilienpreise, die das Wohnen im grenznahen Ausland attraktiver machen. So pendeln heute neben ausländischen Grenzgängern auch schätzungsweise 20’000 Schweizer von Frankreich nach Genf.

Push-Faktoren: Veränderungen von Faktoren im Ausland, beispielsweise die gestiegene Arbeitslosenquote in Frankreich und Italien. Während die (harmonisierte) Arbeitslosenquote in der Lombardei bis 2008 zeitweise deutlich unter dem Niveau des Tessins lag, hat seither eine Annäherung beider Quoten auf höherem Niveau stattgefunden.

Eine quantitative Auswertung der einzelnen Faktoren sprengt den Rahmen dieses kurzen Artikels. Hier sei daher nur festgestellt, dass es verfehlt wäre, den Anstieg der Grenzgängerbeschäftigung alleine auf das FZA zurückzuführen, nicht zuletzt, weil die Grenzgänger ja schon vor dem FZA wenig Restriktionen unterlagen und keiner Kontingentierung unterstanden. Eine «offene» Grenze stellt eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung der grenzüberschreitenden Beschäftigung dar.

Wahre oder wahrgenommene Probleme?

Spezialfall Tessin?

Der starke Anstieg der Grenzgängerbeschäftigung in den Grenzregionen löste immer wieder Befürchtungen aus. Am meisten verbreitet ist die Angst vor der Verdrängung der einheimischen Erwerbstätigen. Die Vorstellung, dass es eine fixe Menge an Arbeit gibt und dass folglich jeder zusätzliche Grenzgänger einen Arbeitsplatzverlust für die Einheimischen mit sich bringt, gehört zu den ältesten wirtschaftspolitischen Mythen: Diese Substitution lässt sich empirisch nicht nachweisen. Zwischen 1996 (also vor dem FZA) und 2012 fiel das Beschäftigungswachstum der Wohnbevölkerung in Grenzgängerregionen in der Regel ähnlich aus wie in Nicht-Grenzgängerregionen. Auch im Tessin hat die Erwerbsquote der Inländer seit 1996 um rund 3 Prozentpunkte zugenommen, gleich viel wie auf Schweizer Ebene.

Ähnlich schwammig erscheint die Behauptung, die Grenzgänger würden generell einen Lohndruck in den Grenzregionen auslösen. Auch wenn Vergleiche von einfachen Medianlöhnen mit einer Prise Salz genommen werden müssen, fällt auf, dass die Lohnentwicklung der Schweizer, der niedergelassenen Ausländer und der Grenzgänger im Tessin zwischen 2001 und 2011 beinahe identisch verlief.

Zwar liegen die Tessiner Löhne nach wie vor rund 15% unter dem Schweizer Durchschnitt. Diese Differenz bestand aber auch vor dem FZA. Sie ist struktureller Natur: So sind Tessiner Erwerbstätige mit tertiärem Abschluss (d.h. Universität oder Fachhochschule) rarer als im gesamtschweizerischen Durchschnitt (29,7% bzw. 34,4% der Beschäftigten). Präzisere Schätzungen des Lohngefälles zwischen Grenzgängern und Tessinern weisen zudem auf ein geringeres Lohngefälle hin, als die einfachen Medianwerte suggerieren (USTAT, 2013). Dieses dürfte mittlerweile weniger als 8% betragen – von einem generanlisierten «Lohndumping» also weit entfernt. Eine Gesamtbetrachtung müsste zudem auch das tiefere Preisniveau berücksichtigen, das die tieferen Löhne mit sich bringen. Davon profitiert die ganze Bevölkerung.

Vorteile und Grenzen

Vor dem Hintergrund, dass der am wenigsten schädliche Weg zur Bremsung der Zuwanderung gefunden werden sollte, gewinnen die Grenzgänger besonders Gewicht. Grenzgänger sind keine Zuwanderer, sondern «nur» Arbeitskräfte. Sie beanspruchen den Sozialstaat kaum, fragen keine Wohnungen nach, bringen keine Familien mit und belasten – mit Ausnahme von Strasse und Bahn – praktisch keine öffentliche Infrastruktur.

Sollte die Schweiz also in Zukunft noch vermehrt auf Grenzgänger setzen? Die gemessen an den Reallöhnen immer noch sinkenden Mobilitätskosten stellen zweifellos einen Treiber transnationaler Pendler bewegungen dar. Hochgeschwindigkeitszüge und günstige Flugpreise haben die Attraktivität des Pendelns aus noch entfernteren Regionen erhöht, zumindest in Form des Wochenaufenthalters. Das Bild des vielfliegenden Pendlers hat sogar die Populärkultur erreicht, etwa im Film «Up in the air», in dem George Clooney fast täglich geschäftlich unterwegs ist.

Allerdings sind derzeit die Grenzgänger, auch wenn sie in der Schweiz (mit Ausnahme des Tessins) im Vergleich zu den bereits ansässigen ausländischen Erwerbstätigen überdurchschnittlich verdienen, im Vergleich zur Gesamtbeschäftigung unterdurchschnittlich qualifiziert (und bezahlt). Ende 2013 übten nur 12% der Grenzgänger «akademische Berufe» aus, 17% waren wenig qualifizierte Hilfsarbeitskräfte. Die entsprechenden Zahlen liegen für die Schweizerinnen und Schweizer bei 25% bzw. 3%. Noch ungünstiger fällt der Vergleich zur «neuen Zuwanderung» aus, also zu den Migranten, die seit dem FZA mit der EU in die Schweiz gekommen sind. Bei dieser Kategorie liegt der Anteil der akademischen Berufe sogar bei über 36%. Sollen Grenzgänger also in Zukunft teilweise die Verlangsamung der Zuwanderung auffangen, müssten sie wohl vermehrt aus dem oberen Qualifikationssegment kommen. Nur so könnten sie auf einem künftig kontingentierten Arbeitsmarkt die Nachfrage nach hochqualifizierten, spezialisierten Fachkräften, die in den letzten Jahren trotz Konjunktureinbruch stets stark geblieben ist, bedienen.

Mehr zu diesem Thema finden Sie in der Publikation «avenir spezial: Gelenkte Zuwanderung».