Rein physikalisch ist die Schweiz gut in den europäischen Strommarkt integriert. Nur wenige Länder verfügen – gemessen an ihrem Kraftwerkspark – über derart grosse Netzkapazitäten für Importe, Exporte und Transite. Die hohe Relevanz des grenzüberschreitenden Handels illustrieren die viertelstündlich gemessenen physikalischen Nettoimporte und -exporte, die im Januar 2014 zeitweise bis zu 700 bzw. 400 MWh betrugen (Abbildung). Zum Vergleich: Das KKW Mühleberg produziert in einer Viertelstunde etwa 93 MWh. Die Bedeutung des Stromaussenhandels zeigen auch die Jahreszahlen: 2012 standen einer Erzeugung von 68 TWh Stromeinfuhren von 31 TWh und Ausfuhren von 32 TWh gegenüber. Dies verleitet zur Vorstellung, dass die Schweiz für Europa eine eigentliche «Stromdrehscheibe» sei. Doch gemessen an der Produktion in Deutschland (590 TWh) oder Italien (288 TWh) sind die Flüsse über das Schweizer Netz von beschränkter Bedeutung. Auch sind die Importe für Italien zwar wichtig, doch für die Versorgungssicherheit nicht entscheidend. Das Land verfügt über einen ausreichend grossen Kraftwerkspark – doch ist dieser aufgrund des hohen Anteils älterer fossiler Kraftwerke sowie höherer Gaspreise relativ teuer. Ähnliches gilt für die Vermutung, dass Schweizer Pumpspeicher künftig die Rolle einer flexiblen «Batterie» für die Energiewende in Europa einnehmen könnten. Heute verfügt die Schweiz über Pumpspeicher mit einer Leistung von etwa 1700 MW, im Bau oder in Planung sind weitere rund 4000 MW. Im Vergleich zum KKW Mühleberg (373 MW) ist das eindrücklich. Tatsächlich aber würden Schweizer Pumpspeicher nur einen bescheidenen Teil fluktuierender Erneuerbarer ausgleichen: Alleine in Deutschland waren bis Ende 2013 etwa 36‘000 MW Photovoltaik sowie 33‘000 MW Windkraftwerke installiert. Auch künftig werden in erster Linie fossile Kraftwerke das Back-up für die Erneuerbaren sein.
Handel bricht nicht zusammen
Die von Politikern häufig zitierten «Trümpfe» des Schweizer Strommarkts werden daher die EU nicht automatisch zurück an den bilateralen Verhandlungstisch zwingen. Das heisst umgekehrt nicht, dass der schweizerische Stromaussenhandel bald gänzlich zusammenbrechen wird. Schliesslich nahm der Handel zwischen der Schweiz und ihren Nachbarn in der Vergangenheit sehr dynamisch zu, obschon es noch kein bilaterales Abkommen gab. Dies ist nicht nur auf den Ausbau grenzüberschreitender Leitungskapazitäten zurückzuführen, sondern auch auf den Abbau von administrativen und tarifären Schranken (Entfall von Import-, Export- und Transitgebühren). Vor allem aber ändert ein bilaterales Abkommen alleine – oder eben das Nicht-Zustandekommen – vorab nichts an der überaus engen physikalischen Einbindung der Schweiz in das europäische Stromübertragungsnetz. Letztlich lässt sich nicht verhindern, dass sich ein Teil der europäischen Stromflüsse den Weg in oder durch die Schweiz sucht und umgekehrt. Der Stromhandel wird daher für die Energiepolitik in jedem Fall eine zentrale Determinante bleiben – bilaterales Abkommen hin oder her.
Vorteile eines Market Coupling
Daraus lässt sich nicht folgern, dass ein bilaterales Stromabkommen der Schweiz keinen Nutzen bringen würde. Profitieren würde die Schweiz vor allem von der besseren Integration in europäische Handelsmechanismen. Dabei geht es vor allem um die Teilnahme am System des «Market Coupling» zur effizienteren Bewirtschaftung knapper grenzüberschreitender Netzkapazitäten. Angewendet wird dieses bereits zwischen Deutschland / Österreich, Frankreich und Benelux (Central Western Europe, CWE-Region) – schon in diesem Jahr soll eine zusätzliche Koppelung mit Skandinavien und Grossbritannien erfolgen.
Vor der Einführung des Market Coupling wurden die Netze den Stromhändlern in separaten Auktionen vergeben – ähnlich wie Import- oder Exportkontingente. Die Bereitschaft der Händler, für das Recht zur Nutzung von Netzkapazitäten zu zahlen, hängt vom Handelsgewinn mit Energie ab – und damit von der Differenz der Strompreise zwischen benachbarten Ländern. Weil im System mit «expliziten Auktionen» Netze und Energie separat gehandelt werden, entstehen erhebliche Ineffizienzen. Vor allem werden die vorhandenen Netzkapazitäten unvollständig genutzt, weil sie noch vor der Preisbildung am kurzfristigen Strommarkt vergeben werden. Dabei kann es vorkommen, dass Netze für Transaktionen in die «falsche» Richtung ersteigert werden – also von der Hoch- in die Tiefpreiszone. Nach Abschluss der Netzauktionen können die Kapazitätsbuchungen in die verschiedenen Richtungen jedoch nicht mehr miteinander saldiert werden. Dadurch werden die vorhandenen Kapazitäten nicht vollständig ausgelastet, so dass der Handel künstlich beschränkt und die Preiskonvergenz behindert wird. Zudem entstehen für die Händler Preisrisiken, da der Preis für die Netzkapazität nicht automatisch der Strompreisdifferenz entspricht.
Der mit den expliziten Auktionen verbundene administrative und finanzielle Aufwand benachteiligt vor allem kleine Händler und Verbraucher, die ihren Strom gerne direkt importieren möchten. Market Coupling vereinfacht diesen Prozess. Im kurzfristigen Handel (Day-ahead, Intraday) wird nur noch Energie gehandelt, separate Auktionen für Netzkapazitäten entfallen. Zu diesem Zweck werden an der Strombörse sämtliche Gebote für den Kauf und Verkauf von Energie aus verschiedenen Ländern gesammelt. Ein zentrales System berechnet – unter Berücksichtigung von Handelsbeschränkungen im Netz – landesspezifische (oder zonale) Preise. Explizite Auktionen für Grenzkapazitäten gibt es nur noch im Terminmarkt, der für bilaterale Stromgeschäfte sowie zur finanziellen Absicherung relevant ist.
Des einen Freud, des andern Leid
Ob die EU bereit wäre, die Schweiz auch ohne bilaterales Abkommen an einem Market Coupling partizipieren zu lassen, lässt sich schwer abschätzen: Dagegen sprechen prinzipielle Argumente der EU, wonach die Teilnahme am Binnenmarkt eine Voraussetzung ist. Dafür spricht, dass ein effizienterer Handel beiden Seiten nützt. Das jedenfalls gilt aus volkswirtschaftlicher Perspektive. Die Akteure – gerade auf der Schweizer Seite – dürften aber eine differenziertere Perspektive vom Nutzen des Market Coupling haben:
- Etablierte Stromhändler könnten im bisherigen System der expliziten Auktionen auch Vorteile sehen. Die Friktionen des separaten Handels von Netz und Energie eröffnen vielfältige Möglichkeiten zur Arbitrage und dadurch zusätzliches Handels- und Gewinnpotenzial.
- Produzenten profitieren zwar von den einfacheren Exportmöglichkeiten. Doch steigt umgekehrt mit der Vereinfachung des Imports auch die Wettbewerbsintensität an. Der Nettoeffekt hängt in erster Linie von den relativen Preisen im In- und Ausland ab. Wegen des derzeit sehr tiefen Preisniveaus im Norden würde ein Anschluss an die CWE-Region der Schweiz wohl tiefere Preise bescheren.
- Verbraucher würden umgekehrt nicht nur von den tieferen Strompreisen, sondern auch von den vereinfachten Importmöglichkeiten und dem damit verbundenen Konkurrenzdruck profitieren. Würde hingegen auch noch das Hochpreisland Italien an das Market Coupling angeschlossen, könnte sich dieser Preisvorteil relativieren. Denn nun würde der vereinfachte Handel mit Italien eher höhere Preise implizieren. Weil aber die Netzkapazitäten im Süden geringer sind als im Norden, dürfte dieser Effekt beschränkt sein.
- Pumpspeicherwerke sind eine separate Kategorie, da für sie die absolute Höhe der Strompreise nicht relevant ist, sondern vielmehr die Preisvolatilität. Neue, grosse Anlagen – wie etwa Linth-Limmern – werden künftig weniger das klassische Tag-Nacht-Geschäft nutzen, sondern vermehrt kurzfristige Preisschwankungen, die durch fluktuierende erneuerbare Energien im Ausland verursacht werden. Ein effizienter grenzüberschreitender Handel wird für ihr Geschäftsmodell zur zentralen Voraussetzung.
Die unterschiedlichen Perspektiven illustrieren, dass die Schweizer Strombranche nicht nur von den Vorteilen eines solchen Market Coupling profitieren würde. Entsprechend gelassen sehen einige Vertreter der Branche die drohenden Verzögerungen bei den bilateralen Verhandlungen. Im Kontext der tiefen Energiepreise in Europa sind es in erster Linie die Schweizer Verbraucher, die von einem effizienteren Handel mit den Nachbarländern profitieren würden – die aber werden von den Medien und der Politik kaum nach ihrer Meinung gefragt.