«Der Strukturwandel erfasst auch die Schweiz mit voller Wucht – unabhängig davon, ob gerade eidgenössische Wahlen stattfinden oder nicht», stellte Stiftungsratspräsident Andreas Schmid in seiner Eröffnungsrede zur Herbsttagung 2019 im Museum für Gestaltung Zürich fest. Die Befürchtungen der Wählerinnen und Wähler im Bereich des Klimawandels seien aufzunehmen, jedoch ohne der Versuchung nachzugeben, dirigistische, technokratische und damit ineffiziente und teure Lösungen zu finden. Er warnte davor, neue Subventionstöpfe zu kreieren, die der Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz – und damit letztlich auch dem Klima – schadeten. Das neue Parlament werde viel Selbstdisziplin brauchen, um ohne ideologische Scheuklappen klug auf die anstehenden Umwälzungen zu reagieren.
Groteske Blüten
Welche grotesken Blüten Ideologie bisweilen konkret zu treiben vermag, schilderte Peter Grünenfelder in seiner Keynote am Beispiel der soeben lancierten Volksinitiative «Für einen gesundheitsverträglichen und stromsparenden Mobilfunk». Darin wird u.a. verlangt, dass in allen öffentlichen Verkehrsmitteln eine Gruppe gekennzeichneter Sitzplätze zur Verfügung zu stellen sei, an denen die Verwendung elektronischer Geräte untersagt ist. «Statt also den Wohlstand auch dank dem intelligenten Einsatz neuer Technologien zu mehren, gilt neuerdings die Prämisse des Strukturerhalts, oder in ihrer radikaleren Ausprägung, des Strukturrückbaus», stellte der Direktor von Avenir Suisse fest.
Gleichzeitig sei eine Vereinfachung komplexer Probleme durch Zuspitzung auf simple Lösungen zu beobachten. Auf diese Art gediehen verführerische Narrative – etwa jenes einer angeblich schlimmen sozialen Ungerechtigkeit oder eines vermeintlich böswilligen Auslandes. Beide Geisteshaltungen sekundierten dem falschen Narrativ des ungesunden Wettbewerbs.
Avenir Suisse habe es sich zur Aufgabe gemacht, die anstehenden Umwälzungen systematisch einzuordnen, sie in einen strategischen Rahmen zu setzen und zu formen. Dies sei der Hintergrund der neuen Publikation «Was wäre, wenn… – 13 mögliche Entwicklungen und ihre Konsequenzen für die Schweiz».
Lust auf Lektüre
Welche möglichen Entwicklungen der Think-Tank konkret unter die Lupe genommen hat, erläuterten Jennifer Anthamatten und Jürg Müller in ihrer Präsentation. Eine Lesung von Ausschnitten aus drei Szenarien aus dem Buch weckten Lust auf eigene Lektüre. Wobei der Mitherausgeber Jürg Müller darauf hinwies, dass die geschilderten, scheinbar phantastischen Szenarien alles andere als aus der Luft gegriffen seien. Ihre Handlungsempfehlungen im Buch hätten die Forschenden von Avenir Suisse deshalb mit harten Zahlen und Fakten untermauert.
In der anschliessenden «Elefantenrunde» diskutierten unter der Leitung von Peter Grünenfelder die Nationalräte Albert Rösti (Parteipräsident SVP), Gerhard Pfister (Parteipräsident CVP), Beat Jans (Vizepräsident SP) und Beat Walti (Fraktionspräsident FDP). Dabei traten die verschiedenen Bruchlinien zwischen den Parteipositionen deutlich hervor: Für Rösti scheint die Klimapolitik im Moment zu überschiessen, während sich die drei anderen Redner davon überzeugt zeigten, das Thema werde sich nicht so bald erschöpfen. Einen Punkt hatte Albert Rösti allerdings mit der Feststellung, dass von der Bemühung, das Klima zu schützen, im Alltag wenig zu spüren sei – zum Beispiel, wenn man das Flugverhalten der Schweizer beobachte: «Man versucht einfach, das Problem an die Politik zu delegieren.»
Beat Jans hingegen versteht den umweltpolitischen Ruck bei den Wahlen als Auftrag, auch mit Verboten und Regulierungen auf das Problem zu reagieren. So beruhe zum Beispiel das Gewässerschutzgesetz auf Verboten und habe der Schweiz immerhin zu sauberen Seen und Flüssen verholfen, die heute als positive Standortfaktoren wahrgenommen werden.
Dogmatische Positionen aufgeben
Anders wiederum verliefen die Bruchlinien in Sachen Öffnung der Schweiz – für Beat Walti ein zentrales Anliegen. «Wir wären gut beraten, die dogmatischen Positionen aufzugeben», rief er seinen Kontrahenten zu. Das institutionelle Rahmenabkommen (InstA) sei wichtig für die Dynamisierung der Beziehungen zur EU.
Beat Jans bekannte sich ebenfalls zu engen Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten und warnte vor der SVP-Begrenzungsinitiative, die für ihn eine «Kündigungsinitiative» der bilateralen Verträge sei. Werde sie angenommen, befinde sich die Schweiz in einer Situation wie Grossbritannien mit dem Brexit. Allerdings dürfe ein Abkommen nicht auf Kosten der Arbeitnehmenden gehen, schränkte er ein. Gerhard Pfister wiederum plädierte dafür, zuerst in der Schweiz einen Konsens herzustellen und anschliessend die Verhandlungen mit der EU neu aufzugleisen, während Albert Rösti die Bedenken der SVP bezüglich Zuwanderung aus der EU bekräftigte.
Einigkeit schliesslich herrschte in der Diskussionsrunde in der Ablehnung der grassierenden Regulierung – jedenfalls auf den ersten Blick. Während Walti betonte, das InstA regle nichts Neues, sondern stelle das dynamische Weiterlaufen der bilateralen Verträge sicher, ortete Rösti genau im InstA eine potenzielle Quelle neuer Regulierungen.
Diese Uneinigkeit über den Weg zum gemeinsamen Ziel führte Peter Grünenfelder zu seiner launigen Schlussbemerkung, wonach in der neuen Avenir-Suisse-Publikation ein Szenario fehle, nämlich die Frage: «Was wäre, wenn die SVP das Rahmenabkommen unterstützen würde?» – An der Antwort darauf beisst sich selbst Avenir Suisse die Zähne aus.
Dank für grosszügige Unterstützung
Zum Abschluss der Veranstaltung dankte Thomas Hammer, der Präsident der Förderstiftung, den Förderinnen und Förderern für ihre grosszügige Unterstützung des Think-Tanks. Damit erwiesen sie nicht nur der Wirtschaft, sondern der Schweiz einen grossen Dienst. Wie für das Museum für Gestaltung, in dessen Räumlichkeiten die Herbsttagung stattfand, sei es die Aufgabe von Avenir Suisse, dafür zu sorgen, dass die Vergangenheit eine Zukunft erhält. Ganz wie es die Bilder von mutigen Schweizer Pionier-Projekten aus der Vergangenheit in der neuen Publikation von Avenir Suisse suggerieren: Sie stammen aus einer Zeit, als die Frage «Was wäre, wenn…» den nationalen Ehrgeiz zu kitzeln vermochte und nicht vor allem Bedenken von allen Seiten auslöste.