In Debatten um die Stellung der Schweiz in der Welt ist gerne davon die Rede, dass nun endlich mit der schweizerischen Schlaumeierei Schluss sein müsse. Die solches vortragen, verwenden Schlaumeierei in der Regel in einem pejorativen Sinne. Dabei gibt die ursprüngliche Bedeutung des Wortes diese Interpretation gar nicht her. Gemäss Duden ist ein Schlaumeier ein pfiffiger Mensch, was ja per se nichts Schlechtes ist. Doch wenn die schweizerische Schlaumeierei angeprangert wird, ist damit anderes gemeint, nämlich unfaires Trittbrettfahren, raffiniertes Profitieren von den anderen, schnödes Rosinenpicken, kurzfristiges Taktieren, nicht genügende Beteiligung an gemeinschaftlichen Lasten, kurz: Fünfer-und-Weggli-Politik. Von der Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug über das Anflugregime beim Flughafen Zürich bis hin zu den massgeschneiderten «Bilateralen» statt des Anzugs von der Stange namens «Vollbeitritt» wittern die Kritiker der Schlaumeierei überall eine Politik, die ungebührlich auf den eigenen Vorteil ausgerichtet ist. Doch stimmt dies wirklich?

Zerrissenes Land

Die These von der Schlaumeierei geht nur schon deswegen in die Irre, weil die Schweiz von ihrem politischen System her für schlaue Taktik ziemlich ungeeignet ist. Es gibt keinen Mastermind, keine dominierende Partei, keinen Bundeskanzler, der alles in eine kluge Richtung führt. Vielmehr war und ist die Schweiz in aussenpolitischen Fragen sehr gespalten und dadurch sowohl unberechenbar als auch angreifbar. Das kann dazu führen, dass sich ein Kurs durchsetzt, der sich im nachhinein für das Land als ungünstig erweist – allerdings machen bekanntlich auch politische Führer Fehler. Nichts hat das Land mitten durch alle Parteien hindurch so zerrissen wie die EU-Beitrittsfrage. Auch der Staatsvertrag 2003 mit Deutschland in Sachen Flughafen war umstritten: der zuständige Bundesrat wollte ihn, eine Mehrheit wollte ihn nicht. Selbst im Umgang mit dem Bankgeheimnis zeigt sich eine tiefe Gespaltenheit weniger des Volkes als vielmehr der Politik. Die Linke attackiert seit Jahrzehnten aus ideologischen Gründen den Schutz der Privatsphäre. Das waren nie gute Voraussetzungen für aussenpolitische Winkelzüge.

Analysiert man die erwähnten Beispiele wohlwollend, also zwar nicht ohne Selbstkritik, aber eben auch nicht hämisch oder gar böswillig, wird man in keinem Fall den Vorwurf der Schlaumeierei begründen können.

Das Bankkundengeheimnis in Kombination mit der Unterscheidung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug ist Ausfluss eines spezifisch helvetischen Verständnisses von Bürger und Staat; es wurde allerdings nicht geschaffen, um unlautere Geschäfte mit Bürgern anderer Staaten zu machen. Die gelebte mittlere Distanz zur Europäischen Union ist die Folge von Jahrhunderten geschichtlicher Erfahrung sowie eines Volkes, das gewohnt ist, in Sachfragen mitzubestimmen. Einzig im Falle des Flughafens hat man ohne Zweifel die Interessen der süddeutschen Bevölkerung zu lange nicht ernst genommen. Man hat diese nicht gleich behandelt und gewichtet wie die Anliegen der eigenen Anrainer, und man hat Entschädigungen weit von sich gewiesen. Die Folge davon ist, dass nun Deutschland seinerseits den Lärm diesund jenseits der Grenze nicht gleich gewichtet. Die Schweiz hat in dieser Frage sehr wohl die besseren Argumente auf ihrer Seite, aber das nützt ihr wenig.

Viele Irritationen und Reibungen mit dem Ausland gehen ganz offensichtlich auf das zurück, was für einen grossen Teil der Bevölkerung, wenn auch bei weitem nicht für die Mehrheit, ein absoluter Reizbegriff ist: auf den Sonderfall Schweiz. Die Neutralität, die das Land einst nicht selbst gesucht hat, sondern die ihm auferlegt wurde, ist ein Ausfluss davon. Sie wird weitherum in der Welt nicht als vornehme Zurückhaltung interpretiert, sondern eben als Schlaumeierei, als Versuch, es mit niemandem zu verderben, auch mit Unrechtsregimen nicht, mit allen Seiten gut Freund zu sein, von allen zu profitieren. Friedrich Dürrenmatt hat dies mit Blick auf die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg bereits vor gut 40 Jahren unübertroffen differenziert, in einer bemerkenswerten Balance von Moral und Realpolitik, formuliert: «Die Schweiz hatte politisch nur eine Aufgabe zu lösen, die alle anderen politischen Aufgaben nebensächlich machte … Den Krieg vermittels ihrer Politik zu vermeiden, und sie vermied ihn vermittels ihrer Politik … So zogen wir uns denn schweizerisch aus einer unmenschlichen Lage: Nicht unklug, mit hohem moralischem Anspruch und mit moralisch oft bedenklicher Praxis. Neutralität ist eine politische Taktik, keine Moral. Neutralität ist die Kunst, sich möglichst nützlich und möglichst ungefährlich zu verhalten. Wir waren auch Hitler gegenüber möglichst nützlich und möglichst ungefährlich … Unsere Fehler und unsere Tugenden, unsere Feigheit und unser Mut, unsere Unterlassungen und unsere humanen Gesten, unsere Dummheit und unsere Klugheit, unser Nachgeben und unser Widerstand dienten unbewusst und bewusst nur dem Ziel, davonzukommen. Und so kamen wir denn davon.»¹

Unangepasstes Land

Dazu kommt etwas Grundsätzlicheres: sich nicht in einen grossen Trend einzuordnen, sich nicht anzupassen, hat dieses Land oft ausgezeichnet und macht einen Teil seiner Identität aus. Das ist nicht immer einfach zu verstehen und leicht auszuhalten, weder für die Vertreter des Mainstream noch für jene, die das Sonderzüglein fahren wollen. Aber es ist legitim – und es hat zudem per saldo der Schweiz auch mehr genützt als geschadet. Vielleicht wurzelt genau darin der Vorwurf der Schlaumeierei: dass ausgerechnet die helvetische Eigenwilligkeit nicht etwa mit Misserfolg bestraft, sondern im Gegenteil belohnt wird, während das Mitschwimmen im grossen Strom sich irgendwie nicht so recht bewähren will. Und dass deswegen die Unterstellung aufkommt, das Eigenbrötlerische sei nichts anderes als eine schlaue Strategie zur Verfolgung des Eigeninteresses. Das ist zwar eine reichlich abstruse Interpretation, aber immerhin sollte klar sein, dass es nicht verwerflich wäre, mit seiner Politik, ob gezielt oder eher zufällig, den eigenen Interessen zu dienen. Aussenpolitik ist Interessenpolitik und soll es auch sein. Wenn eine Regierung mit ihrer Aussenpolitik nicht die Interessen der eigenen Bevölkerung verfolgt, verfehlt sie ihren Auftrag und ihre Verantwortung.

Das Land überschätzt sich

Während jedoch grossen Ländern das Instrument der Macht – von «sanftem» Druck über wirtschaftliche Pressionen bis hin zu militärischer Macht – zu Gebote steht, verfügen kleine Länder über nichts dergleichen. Sie können nur an das Recht appellieren (nur, wer setzt es dann durch?), moralisch argumentieren und, dies vor allem, mit den Waffen der Schlauheit und der Klugheit kämpfen. Die Antike hat das immer verstanden und nicht nur toleriert, sondern in den höchsten Tönen besungen. Die Geschichte von David und Goliath ist jenseits aller Religionen zum Sinnbild für unterschiedliche Strategien von Starken und Schwachen geworden. Vor allem aber ist Homers Ode an den «wandlungsreichen» Odysseus, den Erfinder und Umsetzer der List des Trojanischen Pferdes, dessen Schläue von den Menschen und den Göttern nicht minder geschätzt wird als seine oder anderer Helden Kampfkraft, ein literarisches Denkmal für die Schlauheit. Kurt Steinmann nennt Odysseus in seiner Übersetzung einen, der sich in jeder Lebenslage zu seinem Vorteil zu wandeln und der sich selbst zu helfen weiss, der einfallsreich, vielgewitzt, erfindungsreich, klug und schlau ist. Wäre die Schweiz in ihren Beziehungen mit dem Ausland all das, man dürfte nicht klagen.

Leider ist sie das nicht. Erstens hat man in der Schweiz zu sehr ein idealistisches Bild von Aussenpolitik und glaubt, wenn man «im Recht» sei, könne man einen Konflikt auch gewinnen. Dabei übersieht man, dass die Gegenseite eben nicht hehre Ideale verfolgt, sondern legitime Interessen. Und dass die Macht das Recht bricht, aber auch die Moral oder starke Argumente. Damit verknüpft ist, zweitens, dass die Schweizer Politik (nicht die Unterhändler, sie sind meistens sehr gewieft) die Konfliktlogik aus Sicht des Gegners oft nicht wirklich durchschaut, wohl auch, weil man in der innenpolitischen Diskussion die Interessen der anderen Seite nicht wirklich zur Kenntnis nimmt. Wenn man aber die Situation nicht als Interessenpolitik begreift, übersieht man leicht eigene Fehler und missachtet Warnsignale.

Drittens schliesslich und vor allem krankt das Selbstverständnis der Schweiz an Selbstüberschätzung. Sie ist bei den Freunden eines EU-Beitritts, die sich von diesem grossartig Mitbestimmung und Einfluss erwarten, mindestens so ausgeprägt wie bei den «Alleingängern», die gerne die Muskeln spielen lassen möchten. Diese Selbstüberschätzung hat mit vielem zu tun, mit der Tatsache, dass die Schweiz im Kalten Krieg trotz ihrer Kleinheit unter anderem wegen ihrer Neutralität politisch durchaus eine Rolle zu spielen hatte, ebenso wie mit dem heutigen Ungleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen Bedeutung der Schweiz (hier ist das Land nach wie vor eine Mittelmacht) und ihrem politisch sich der Bedeutungslosigkeit annähernden Stellenwert. Nichts ist in «Spielen», in denen man zwischen Kooperation und Konfrontation geschickt abwägen muss, gefährlicher als eine falsche Einschätzung der eigenen und der «gegnerischen» Kräfte.

Viertens schliesslich ist das Denken weiter Teile der Schweizer Politik wohl sehr stark noch im 19. und 20. Jahrhundert verhaftet. Damals war Europa die wichtigste Bezugsgrösse, und dieses Europa war immer irgendwie unter stark antagonistischen Kräften aufgeteilt. Das machte ein pragmatisches Taktieren zwischen verschiedenen Ländern, das konkrete Probleme löst, sinnvoll und richtig. Die wirtschaftliche und politische Integration Europas hat hier eine andere Situation geschaffen. Die langfristige, weil institutionalisierte Zusammenarbeit entspricht dem, was die Spieltheoretiker ein «repeated game» nennen. Das bedeutet einen Zwang zur Kooperation, und es bedeutet vor allem, dass Leistung und Gegenleistung (tit-for-tat) nicht unbedingt in der gleichen Spielrunde erfolgen, sondern dass der langfristige Aufbau von Vertrauenskapital, von Goodwill, honoriert wird. Demgegenüber wird das Bestreben, im einzelnen Spielzug zu viel für sich herauszuholen, sanktioniert. Weil das Verhandeln innerhalb der EU vermehrt dieser Logik von Paketlösungen mit unterschiedlichem zeitlichem Horizont folgt, schwindet das Verständnis für den durchaus legitimen und von allen EU-Ländern früher selbstverständlich auch verfolgten punktuellen und pragmatischen Ansatz.

Man mag dies bedauern, aber es ist wohl eine Realität. Gerade im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU stösst nicht schlaumeierische Interessenpolitik auf hehre Moral, sondern ein in seiner relativen Bedeutung an Gewicht verlierendes kleines Land auf ein wachsendes, wenn auch «sanftes Monster»² (Hans Magnus Enzensberger) und eine pragmatische, den Einzelfall ins Visier nehmende, damit wohl auch kurzatmigere Aussenpolitik auf eine langfristig angelegte institutionalisierte Zusammenarbeit. Die Schweiz hat zur Wahrung der Interessen ihrer Bürger in dieser neuen Welt vielleicht nicht die optimale Grösse (mit Blick auf vieles andere, etwa die Bürgernähe, allerdings schon), aber sie kann diesen Mangel nicht dadurch heilen, dass sie sich entmündigt und in grösseren Verbänden auflöst, denn wahrscheinlich hat Johann Nestroy schon recht: «Gross is’ ung’schickt!»³ Die Schweiz wird einfach die Realitäten zur Kenntnis nehmen und versuchen müssen, eine Art Semi- Autonomie und die vielen Besonderheiten in diesem neuen Umfeld zu bewahren. Und sie sollte das durchaus fair und anständig, aber sehr wohl auch klug, schlau, ja geradezu listig versuchen – kurz, sie sollte sich am wandlungsreichen Odysseus ein Beispiel nehmen.

¹ Friedrich Dürrenmatt: Zur Dramaturgie der Schweiz. Geschrieben 1968, als Fragment veröffentlicht 1972. In: Gesammelte Werke. Bd. 7: Essays, Gedichte. Zürich: Diogenes, 1996.

² Vgl. Interview mit Hans Magnus Enzensberger. In: «Schweizer Monat» 989, September 2011.

³ Das Zitat verdanke ich dem Buch von Michael Breisky über den grossen Proponenten der Kleinheit, Leopold Kohr. Michael Breisky: Gross ist ungeschickt. Leopold Kohr im Zeitalter der Post-Globalisierung. Wien: Passagen-Verlag, 2010.

Dieser Artikel erschien im «Schweizer Monat» vom 3. April 2012.