Bei der Masseneinwanderungsinitiative, über die am 9. Februar 2014 das Stimmvolk entscheidet, geht es um die Frage, ob die Schweiz das Abkommen zur Personenfreizügigkeit mit der EU neu verhandeln beziehungsweise aufkündigen soll. Die Gegner der Personenfreizügigkeit bezweifeln, dass sie von der Zuwanderung profitieren, und kritisieren den damit einhergehenden «Dichtestress ». Verkehrsstaus, Zersiedlung, steigende Immobilienpreise, aber auch die Sorgen des Mittelstands werden mit der Migration in Verbindung gebracht. Die Befürworter betonen die positiven wirtschaftlichen Effekte der Zuwanderung und warnen vor einer Gefährdung der bilateralen Verträge mit der EU.
Die Personenfreizügigkeit war Teil der bilateralen Verträge I. Im Gegenzug zu dem von der Schweiz gewünschten Zugang zum europäischen Binnenmarkt forderte die EU eine Mobilität für Arbeitskräfte – einer der vier Grundpfeiler des gemeinsamen Marktes. Die Personenfreizügigkeit trat 2002 in Kraft und wurde schrittweise eingeführt: 2004 wurde der Inländer-Vorrang abgeschafft, aber die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen blieb durch Kontingente begrenzt. Gleichzeitig wurden flankierende Massnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping eingeführt. Seit 2007, mit der Abschaffung der Kontingente, gibt es die Personenfreizügigkeit mit den 15 alten EU-Ländern. Die Kontingente für zehn Länder Osteuropas fielen 2011, jene für Bulgarien und Rumänien bestehen noch.
Die zunächst wichtigste Folge der Personenfreizügigkeit war eine Umschichtung in der Struktur der Zuwanderung: Während noch in den neunziger Jahren vor allem Migranten aus Nicht-EU-Ländern kamen, stammen heute zwei Drittel aus der EU – und damit aus Regionen, die der Schweiz sprachlich und kulturell näherstehen. Dies erleichtert die Integration. Während Ende der neunziger Jahre nur 20 Prozent aller Zuwanderer aus Gründen der Erwerbstätigkeit kamen, hat sich diese Quote inzwischen verdoppelt. Die Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit findet also in den Arbeitsmarkt statt, nicht in die Sozialwerke. Zugleich hat sich der Anteil der einwandernden Erwerbstätigen mit Hochschulbildung von 20 Prozent Anfang der neunziger Jahre auf über 50 Prozent erhöht.
Im Rahmen der Personenfreizügigkeit kommen also überwiegend gut qualifizierte Arbeitskräfte mit ihren Familien in die Schweiz. Anders verhält es sich mit der sonstigen Zuwanderung, die überwiegend aus Familiennachzug von Ländern ausserhalb der EU besteht. Die migrationspolitische Neuerung der Personenfreizügigkeit bestand genau darin, die Steuerung der Migration dem Arbeitsmarkt zu überlassen – dies funktioniert erstaunlich gut. Denn die Schweiz erlebte seit der Jahrtausendwende einen regelrechten Arbeitsplatz- Boom. Die Zahl der Beschäftigten nahm im letzten Jahrzehnt um zehn Prozent zu; die zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften konnte meist nur durch Zuwanderer befriedigt werden.
Arbeitslosigkeit bleibt tief
Eine nennenswerte Verdrängung einheimischer Beschäftigter gab es dabei nicht – die Arbeitslosenquote der Schweizer verharrte in all den Jahren auf sehr niedrigem Niveau. Eine höhere Arbeitslosigkeit findet sich lediglich bei Nicht-EU-Ausländern, aber dieses Problem gab es schon vor Einführung der Personenfreizügigkeit – es ist gewissermassen eine migrationspolitische Altlast. Auch das befürchtete Lohndumping durch Öffnung des Arbeitsmarkts blieb weitgehend aus. Die vom Arbeitsmarkt getriebene Steuerung der Migration zeigt also die erwünschte Wirkung. Trotz der Öffnung des Arbeitsmarktes blieb die Schweiz eine Hochlohn-Insel in Europa. Viele der mit der Personenfreizügigkeit verbundenen Sorgen bewahrheiteten sich somit nicht.
Das starke Wirtschaftswachstum, das die Schweiz in den frühen 2000er Jahren erlebte, verdankte sie in weiten Teilen dem starken Aufbau der Beschäftigung, war also nur durch Zuwanderung möglich. Es wird häufig kritisiert, dass diese Expansion durch mehr Arbeitskräfte und nicht eine höhere Produktivität pro Kopf gelang. Zum Teil ist dieser Einwand berechtigt. Problematisch scheint auch, dass es einen überdurchschnittlichen Stellenzuwachs in staatsnahen Branchen gab, zum Beispiel im Bildungs- und Gesundheitswesen. Trotzdem gab es auch für die angestammte Bevölkerung einen Wohlstandsgewinn: Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf nahm 2000 bis 2010 um 10 Prozent zu – und damit doppelt so schnell wie im Jahrzehnt zuvor.
Aber selbst ein Breitenwachstum bringt wirtschaftliche Vorteile für die einheimische Bevölkerung. Die sprudelnden Steuereinnahmen trugen zur guten Finanzlage der öffentlichen Haushalte und der Sozialwerke bei – und ermöglichten damit öffentliche Investitionen und sogar einen Schuldenabbau. Während die Staatsschulden in den anderen westlichen Industrieländern explodierten, erwirtschaftete der Bund in den Krisenjahren konstant Überschüsse und tilgte zwischen 2005 und 2012 sogar Schulden in Höhe von 18 Milliarden Franken. Dies ist nicht nur eine Folge der 2003 eingeführten Schuldenbremse, sondern auch der massiv verbreiterten Steuerbasis.
Schweiz spart Bildungsausgaben
Nicht nur bei den öffentlichen Finanzen bescherte der von der Personenfreizügigkeit getriebene Boom der Schweiz eine Sonderkonjunktur. Durch die Krisenjahre hindurch hielt der Beschäftigungsaufbau in der Schweiz an, wenn auch mit verringertem Tempo. Die wachsende Bevölkerung stabilisierte über den Konsum die Binnenkonjunktur, als die Exporte wegbrachen. Dieser Sondereffekt trug dazu bei, dass die Schweiz vom enormen Kollateralschaden der Finanzkrise verschont blieb, also von Massenarbeitslosigkeit und ausufernder Staatsverschuldung.
Zudem spart die Schweiz durch den Import von Humankapital enorme Bildungsausgaben. Es wandern jährlich etwa so viele Personen mit höherer Bildung ein, wie sie das Schweizer Bildungssystem selbst «produziert ». Alleine die etwa 3500 deutschen Ärzte, die hierzulande arbeiten, ersparten der Schweiz Ausbildungskosten von 3 Milliarden Franken. Die Hochqualifizierten sind zwar weniger sesshaft als die Unqualifizierten, aber auch wenn man die Rückwanderung berücksichtigt, ist die Wanderungsbilanz für unsere Volkswirtschaft deutlich positiv. Der grosse Pool qualifizierter, mehrsprachiger Arbeitskräfte macht die Schweiz zudem attraktiv für internationale Konzerne. Ein weiterer positiver Effekt der Zuwanderung ist die damit verbundene demografische Dividende. Die Zuwanderer sind im Schnitt deutlich jünger als die einheimische Bevölkerung, und mit den qualifizierten Arbeitskräften wandern häufig auch junge Familien ein. Ohne Zuwanderung würde die Schweiz schon bald merklich schrumpfen: Die Fertilitätsrate von 1,5 Kindern pro Frau liegt fast ein Drittel unter dem für eine stabile Bevölkerung nötigen Rate von 2,1. Konkret heisst das: Ohne Zuwanderung ist jede Schweizer Generation um knapp ein Drittel kleiner als die vorherige.
Die wirtschaftliche Bilanz der Personenfreizügigkeit ist also überwiegend positiv. Nach der Wachstums-schwäche der neunziger Jahre ermöglichte die Zuwanderung der Schweiz ein Boomjahrzehnt und eine Sonderkonjunktur in der Krise. Vor allem die Bedeutung des zweiten Effekts wird viel zu wenig gewürdigt – denn viele westliche Industrieländer werden unter den Folgen des schwersten Konjunktur-einbruchs seit dem Zweiten Weltkrieg noch Jahre zu leiden haben. So gesehen scheint die These vertretbar, dass die Einführung der Personenfreizügigkeit die wichtigste Wirtschaftsreform darstellt, welche die Schweiz in den letzten 15 Jahren umgesetzt hat.
Breitenwachstum bedeutet auch Bevölkerungswachstum; damit verbunden sind eine Reihe negativer Begleiterscheinungen. In den letzten 30 Jahren nahm die Bevölkerung der Schweiz um 1,5 Millionen zu. Infolge der Personenfreizügigkeit hat sich das Wachstum von 43 000 zusätzlichen Einwohnern pro Jahr (1980-2000) auf 70 000 pro Jahr (2000-2012) erhöht. Das hohe Tempo der Zuwanderung stellt Systeme wie die Verkehrsinfrastruktur und den Wohnungsmarkt vor grosse Herausforderungen. Aber in einigen Fällen ist das Bevölkerungswachstum ein zusätzlicher Faktor, der bereits vorhandene Probleme verstärkt.
Zersiedelung der Landschaft
So werden wachsende Verkehrsengpässe häufig der Zuwanderung angelastet. In einer Studie zur Verkehrs-politik hat Avenir Suisse jedoch gezeigt, dass die Verkehrsprobleme vor allem hausgemacht sind. Während die Bevölkerung im letzten Jahrzehnt (2000-2011) um 10 Prozent zunahm, wuchs die Verkehrs-leistung auf den Nationalstrassen um das Vierfache (41 Prozent) und die Personenkilometer auf der Schiene gar mehr als das Fünffache (54 Prozent). Die massive Zunahme der Mobilität ist vor allem eine Folge der hohen Subventionierung. So tragen etwa die Bahnfahrer weniger als die Hälfte der von ihnen verursachten Kosten. Die Lösung des Problems liegt also in höheren Beiträgen der Benutzer.
Auch die Zersiedelung der Landschaft ist zum Teil auf das Bevölkerungswachstum zurückzuführen, zum andern jedoch auf den wachsenden Flächenverbrauch pro Person und vor allem auf eine zu laxe Raumplanung – wie die Ausscheidung übergrosser Bauzonen in peripheren Lagen. Mit der Annahme der Revision des Raumplanungsgesetzes (2013) und der Zweitwohnungsinitiative (2012) wird nun jedoch Gegensteuer gegeben. Diese Massnahmen stellen die tiefgreifendsten Reformen in der Schweizer Raumplanung seit 30 Jahren dar und dürften langfristig zur Eindämmung der Zersiedlung beitragen, wenn sie denn konsequent umgesetzt werden.
Das vielleicht am schwierigsten zu lösende Problem im Zusammenhang mit dem starken Bevölkerungswachstum ist der Wohnungsmangel in den Zuwanderungs-Hotspots – also den grossen Städten Zürich und Genf sowie Niedrigsteuergebieten wie Zug und Schwyz. Dort konnte das Angebot mit der Nachfrage in den letzten Jahren nicht mithalten. Es bedarf daher Massnahmen, die zur Ausdehnung des Wohnungsangebots beitragen. Bürokratische Hürden, die Neubau-Aktivität behindern – wie die geplante neue Bauzonenordnung der Stadt Zürich -, weisen in die falsche Richtung.
Nötig wäre vor allem die Nachverdichtung in den Zentren. Insbesondere die Agglomerationsgürtel um die Grossstädte müssen sukzessive zur Stadt umgebaut werden. Hier sind in erster Linie Gemeinden und Kantone gefordert. Aber auch der Bund sollte zentral gelegene Flächen aus seinem Bestand – zum Beispiel Militärareale – für den Wohnungsbau zur Verfügung stellen. Zudem sollte man in den am stärksten boomenden Regionen auf staatlich subventionierte Massnahmen zur Standortförderung verzichten – um das Tempo der Zuwanderung nicht noch weiter zu erhöhen.
Angst vor Identitätsverlust
Eine weitere Sorge, die in der Migrationsdebatte mitschwingt, sind die Abstiegsängste des Mittelstands. Die Tatsache, dass sich eine Zuwanderung von Geringqualifizierten in eine Zuwanderung Hochqualifizierter umgekehrt hat, trägt zu den Sorgen um den Status bei. Der Mittelstand sieht sich mit einer neuen Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt konfrontiert. Eine Studie zeigt jedoch, dass der Schweizer Mittelstand nicht nur deutlich besser dasteht als jener in den Nachbarländern. Auch die in anderen Industriestaaten ausgeprägte Erosion der Mittelschicht hat in der Schweiz kaum stattgefunden. Dies hängt mit der starken wirtschaftlichen Position des Landes und seiner Widerstandsfähigkeit in der Krise zusammen. Gerade hierzu hat die Zuwanderung massgeblich beigetragen.
Eine andere weitverbreitete Sorge betrifft den Identitätsverlust. Die Schweiz hat einen sehr hohen Anteil an Migranten: Jeder vierte Einwohner ist im Ausland geboren, und jeder dritte hat einen «Migrations-hintergrund». Unter den Industrieländern befindet sich die Schweiz damit in einer Spitzengruppe mit klassischen Einwanderungsländern wie Australien und Kanada. Wie diese hat die Schweiz eine grosse Integrationsleistung erbracht – sie hat die Zuwanderer deutlich besser im Arbeitsmarkt, im Bildungssystem und in der Gesellschaft integriert als Nachbarländer mit viel niedrigerer Migration wie Deutschland oder Österreich. Trotzdem ist es nachvollziehbar, dass ein so hoher Ausländeranteil Sorgen um einen Verlust kultureller Identität weckt.
Fazit: Das hohe Tempo der Zuwanderung trägt zu einer Reihe von Problemen bei – insbesondere der Wohnungsknappheit in den Zentren und den Status-Sorgen des Mittelstands. Einige der Probleme, die mit der Personenfreizügigkeit in Verbindung gebracht werden, sind jedoch auch hausgemacht – wie die Zersiedlung und die Verkehrsüberlastung. Ein Teil der negativen Begleiterscheinungen des Bevölkerungswachstums lässt sich durch Reformen – etwa in der Raumplanung und der Verkehrspolitik – entschärfen.
Trotzdem wird die aus wirtschaftlicher Sicht positive Bilanz der Personenfreizügigkeit durch negative Effekte getrübt. Bis zu einem gewissen Grad sind die Vor- und Nachteile der Zuwanderung miteinander verknüpft. Dieses Dilemma teilt die Schweiz mit anderen erfolgreichen Wirtschaftsregionen wie London, München und dem Silicon Valley. Auch diese zahlen einen Preis für ihren Erfolg.
Dieser Artikel erschien in der «NZZ am Sonntag» vom 8. Dezember 2013. Mit freundlicher Genehmigung der «NZZ am Sonntag».