Kürzlich nahm der Basler Soziologe Ueli Mäder Stellung zu den Thesen des deutschen Journalisten Walter Wüllenweber, der in seinem Buch «Die Asozialen» beschreibt, wie in Deutschland die Mittelschicht erodierte, während ein Prekariat entstand, das sich von bürgerlichen Werten wie Bildungsethos oder Aufstiegswillen verabschiedet hat.

Grundsätzlich ist bei der Übertragung von Analysen aus der deutschen Mittelstands- bzw. Prekariatsdebatte auf die Schweiz grosse Vorsicht geboten. In beiden Ländern wirken zwar einige globale Trends, die in den letzten 20 Jahren zur Erosion der Mittelschichten in den Industrieländen führten. Der wichtigste war der Eintritt der Schwellenländer in den Weltmarkt, der zu einer Verdoppelung des globalen Arbeitskräftepools führte.

Aber gerade Deutschland und die Schweiz nehmen in Hinblick auf diese globalen Trends eine Sonderstellung ein – allerdings unter umgekehrtem Vorzeichen: In Deutschland wirkte sich die Wiedervereinigung aus, in der Schweiz hingegen kamen diese Faktoren nur in abgedämpfter Form an – dank solider Wirtschaftspolitik, hoher Wettbewerbsfähigkeit und fast schon verblüffender Krisenresistenz.

Die grosse Verdopplung traf Deutschland besonders hart, denn die neuen Arbeitskräfte standen 1990 unmittelbar im eigenen Land bzw. durch den Fall des Eisernen Vorhangs in den angrenzenden Nachbarstaaten. Eine Verlagerung von Arbeitsplätzen, Massenarbeitslosigkeit, stagnierende Reallöhne, die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und Sozialabbau waren die Folge. Die westdeutsche Mittelschicht zahlte für die Wiedervereinigung einen hohen Preis, zumal auch noch West-Ost-Transfers von bisher insgesamt 2 Billionen Euro (!) hinzukamen.

Das deutsche Beispiel zeigt aber auch, dass die Auswirkungen der Verdopplung allmählich ausklingen. Ostdeutschland wurde dank den massiven Transfers neu aufgebaut. Nach Jahren massvoller Lohnsteigerungen, einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und teils schmerzhaften Strukturreformen hat Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen. Die Arbeitslosigkeit hat sich halbiert, die Reallöhne steigen wieder. Was jedoch sicher noch viele Jahre nachwirkt, sind die sozialen Verwerfungen, die die Wiedervereinigung mit sich brachte. In Deutschland hat sich eine neue Unterschicht gebildet. Dazu trugen nicht nur Jahre der Massenarbeitslosigkeit und eine dadurch bedingte Abhängigkeit ganzer Milieus von Sozialleistungen bei. Eine weitere deutsche Besonderheit war eine massive unterschichtende Zuwanderung und eine Ghettobildung in den Grossstädten. Auch die Schwächen des Schulsystems trugen zur Verfestigung eines neuen Prekariats bei. Insofern sind die Diagnosen Wüllenwebers durchaus zutreffend, aber sie beschreiben vor allem ein deutsches Problem und nicht ein schweizerisches.

In der Schweiz hingegen schützten eine solide Wirtschaftspolitik, die gute Wirtschaftslage und die hohe Wettbewerbsfähigkeit den Mittelstand in den letzten 20 Jahren weitgehend vor der Erosion. Die Schweiz hat die geringste Arbeitslosigkeit und die höchste Erwerbsquote in der OECD. Die Einkommen liegen weit über dem europäischen Durchschnitt, und die Reallöhne stiegen selbst während der Krise. Die Schweiz hat eine hohe Sparquote und wachsende Privatvermögen. Dank ihrer soliden Staatsfinanzen konnte auf Sparprogramme und Sozialabbau weitgehend verzichtet werden. Das kapitalgedeckte Rentensystem zählt zu den am besten entwickelten in der OECD.

Auch im Hinblick auf ein mögliches Prekariat steht die Schweiz deutlich besser da als Deutschland. Dank eines Paradigmenwechsels in der Migrationspolitik hat sich eine ehemals unterschichtende Zuwanderung in eine überschichtende verkehrt. Ehemalige «A-Städte» wie Zürich oder Basel, die in den 90er-Jahren noch dem Niedergang geweiht schienen, klagen heute über eine «Gentrifizierung» durch qualifizierte Ausländer. Vollbeschäftigung und die starke Stellung der Berufsbildung tragen zur Integration der Secondos aus bildungsfernen Schichten bei. Zudem sind Problemgruppen in der Schweiz nicht in Ghettos konzentriert, bilden daher auch nicht so leicht Parallelgesellschaften.

Dies bedeutet nicht, dass es im Schweizer Mittelstand nicht auch Druckfaktoren gibt, aber gemessen an den Problemen der deutschen Mittelschicht sind diese zweifellos deutlich geringer. Ein Prekariatsproblem, das mit jenem in Berlin oder dem Ruhrgebiet vergleichbar wäre, gibt es in der Schweiz nicht.

 

Dieser Artikel erschien im «Tages-Anzeiger» vom 15. Oktober 2012.