Seit der Einführung der obligatorischen beruflichen Vorsorge (BVG) 1985 profitieren unterdessen über drei Viertel der Neurentner von Leistungen der zweiten Säule. Aber wie haben sich diese entwickelt?
Besser als es bei isolierter Betrachtung der Renten scheint. Laut einer neuen Analyse von Avenir Suisse sind die durchschnittlichen BVG-Leistungen zwischen 2015 und 2022 je nach Berechnungsart nur wenig gesunken – weit weniger stark als gemeinhin angenommen.
Steigende Kapitalbezüge
Der Grund dafür ist die wachsende Bedeutung der Kapitalbezüge: Zwischen 2015 und 2022 ist der Anteil der Neurentner, die sich ihr Kapital ganz oder teilweise auszahlen liessen, um 7 Prozentpunkte von 49% auf 56% gestiegen. Zudem haben die Medianbeträge der bezogenen Sparvermögen von 85’000 Fr. auf 114’000 Fr. zugenommen.
Somit verfälscht die Analyse der Rentenbezüge allein – ohne Berücksichtigung der Kapitalbezüge – die Erfolgsbilanz der beruflichen Vorsorge. Um sich ein realistisches Bild zu verschaffen, hat Avenir Suisse eine «äquivalente Rente» berechnet. Sonia Estevez und Jérôme Cosandey legten das ausbezahlte Kapital in hypothetische Jahresrenten um und sind dabei zu erstaunlichen Resultaten gekommen.
Bezieht man nämlich die erfolgten Kapitalbezüge in diese «äquivalenten Renten» mit ein, reduziert sich der Rentenrückgang bei einem durchschnittlichen Umwandlungssatz um knapp die Hälfte von 9% auf rund 5% zwischen 2015 und 2022. Wendet man den Mindestumwandlungssatz von 6,8% an, sinken die Leistungen sogar nur um 1%. Wenn man berücksichtigt, dass die Renten aufgrund der steigenden Lebenserwartung im Durchschnitt 6 Monate länger ausbezahlt wurden, erweist sich der angeblich starke Leistungsabbau in der zweiten Säule weitgehend als Phantom.
Leistungszuwachs für Frauen
Dank wachsender Erwerbsbeteiligung sind die Leistungen der Frauen zwischen 2015 und 2022 je nach Umwandlungssatz um 2% bis 6% gestiegen – und dies trotz einer höheren Lebenserwartung. Bei den Männern sind die «äquivalenten Renten» im gleichen Zeitraum zwischen 4% und 9% gefallen, allerdings auch bei ihnen unter Einbezug einer um sieben Monate höheren Lebenserwartung.
Individuelle Parameter wie Beschäftigungsgrad oder Berufswahl erweisen sich für die zweite Säule als zentral. Die Leistungen hängen jedoch auch von systemischen Faktoren ab. Die paritätischen Organe der Pensionskassen können die Mindestanforderungen des BVG übertreffen oder durch Anpassung der technischen Parameter die Generationengerechtigkeit verbessern. Es ist wichtig, dass die Versicherten die Konsequenzen sowohl ihrer individuellen als auch der kollektiven Entscheidungen kennen.
Die kapitalgedeckte Finanzierung der zweiten Säule zwingt Versicherte und Vorsorgestiftungsorgane dazu, sich mit den Folgen solcher Entscheidungen auseinanderzusetzen. Denn diese spiegeln sich unmittelbar in den erwarteten Leistungen bzw. im Deckungsgrad der Pensionskassen. Diese Transparenz ist keine Schwäche des Systems – im Gegenteil: Sie hat den Vorteil, der Versuchung der Politik entgegenzuwirken, Leistungen zu versprechen, die von den kommenden Generationen finanziert werden müssen.