Regionalismus in Europa: Plädoyer für die Subsidiarität | Avenir-Suisse-Herbsttagung 2013

Wilfired Scharnagl, Albert Carreras, Haig Simonian, Matthias Diependaele und Mikuláš Dzurinda

Die Slowakei hat sie erreicht, Schotten, Katalanen und Flamen kämpfen dafür, und selbst für Bayern wird sie zunehmend erstrebenswert: die nationale Unabhängigkeit, die Herauslösung  aus einem grösseren Nationalstaat bei gleichzeitiger Beibehaltung der EU-Mitgliedschaft. Avenir Suisse beschäftigte sich an der diesjährigen Herbsttagung mit den Unabhängigkeitsströmungen in Europa.

Mikuláš Dzurinda, langjähriger ehemaliger Premierminister und Aussenminister der Slowakischen Republik, erläuterte in seinem Eröffnungsreferat, warum die Slowakei trotz zunächst ungünstigen Voraussetzungen im Alleingang erfolgreich war. Wilfried Scharnagel, Autor des Buches «Bayern kann es auch allein» und Vordenker der CSU, trug im Anschluss zwölf Thesen vor, warum auch der Freistaat Bayern den Alleingang anstreben sollte. Die von Haig Simonian moderierte Podiumsdiskussion ergänzten Professor Albert Carreras, Stellvertretender Finanzminister Kataloniens, und Matthias Diependaele, Fraktionsvorsitzender der liberalen Neuen Flämischen Allianz im flämischen Parlament.

Samtene Scheidung

Als samtene Scheidung einer Zweckehe bezeichnete Dzurinda die Aufspaltung der Tschechoslowakei im Jahr 1992. Es sei eine Erfolgsgeschichte für beide Staaten geworden, nachdem die Slowakei damals schon ein wenig mit ihrem Schicksal gespielt habe. Von der ehemaligen US-Aussenministerin Madeleine Albright einst als «schwarzes Loch» Europas abgestempelt, produziert der kleine Staat heute pro Kopf der Bevölkerung mehr Autos als alle anderen Länder. Er erfüllt die Maastricht-Kriterien und verzeichnete zwischen 2001 und 2012 das stärkste Wirtschaftswachstum aller 27 EU-Staaten.

Die Slowakei habe Reformen angepackt, den Staat modernisiert, das Steuerwesen mit der Einführung einer Flat-Tax radikal vereinfacht – und die Bevölkerung habe mitgezogen. Für den Rückhalt in der Bevölkerung sei es zentral gewesen, die öffentliche Verwaltung strikt nach dem Subsidiaritätsprinzip aufzubauen – also die regionale und lokale Autonomie so wenig wie möglich zu beschneiden und die Minderheiten einzubinden.

Wirtschaftspolitische Ohnmacht

Genau das Gegenteil – eine zunehmende Zentralisierung  – ist eine der Hauptursachen für die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien, Flandern und Bayern. Die EU habe den Einfluss der einzelnen Regionen und Bundesländer zusätzlich geschwächt. So könne etwa Bayern nicht, wie leise erhofft, in gewissen Punkten direkt mit der EU verhandeln. Das grösste deutsche Bundesland sei im Gegenteil erst recht zum Zahler ohne Stimme geworden, der sich von der EU-Kommission vorschreiben lassen müsse, in welchem Winkel zum Hang die Acker zu pflügen seien, nannte Wolfang Scharnagel ein Beispiel unter vielen für den ausufernden Zentralismus. Auch innerhalb Deutschlands stehe Bayern zunehmend isoliert als grösster von insgesamt drei Nettozahlern 13 Empfängerländern und einem immer stärkeren Zentralstaat gegenüber. Der Länderfinanzausgleich sei ein aus dem Ruder gelaufener Bremsklotz für Deutschland.

Carreras und Diependaele betonten, dass ihr Streben nach mehr Unabhängigkeit nicht nur mit den hohen Transferzahlungen zu tun hat, sondern vor allem damit, dass die Regionen zwar immer mehr zahlen müssen, gleichzeitig aber mit ihren erfolgreichen (wirtschafts-)politischen Vorstellungen innerhalb des Nationalstaates nicht durchdringen. So sei Belgien noch vor einigen Jahren das Land mit der höchsten Autoproduktion pro Kopf der Bevölkerung gewesen. Flandern habe dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und der Autoindustrie machtlos zusehen müssen, bedauerte Diependaele, weil sich wirtschaftspolitische Reformen in den anderen Regionen Belgiens nicht durchsetzen liessen.

Den meisten relevanteren europäischen Unabhängigkeitsbestrebungen ist gemein, dass sie nicht in erster Linie nationalistisch, sondern eher ökonomisch motiviert sind. Vom Ackerpflügen bis zur Ausbildung von Pflegepersonal: Man solle, so Scharnagel, doch den Regionen überlassen, was sie selber am besten können. Dzurinda hob zum Ausklang der Veranstaltung nochmals die Idee eines liberalen und auch innerhalb der Nationalstaaten föderalistischen Europas der Regionen hervor. Dieses sei der beste Schutz vor xenophoben nationalistischen Strömungen.