Das Jahr ist beinahe um, Zeit innezuhalten und zurückzublicken. Was beschäftigte uns 2021? Natürlich die Pandemie, aber da war auch die Fussball-Europameisterschaft (wer erinnert sich noch an den Sieger? – Sorry, Italien) oder der Whatsapp-Unterbruch. Abschied nehmen musste die Welt unter anderem von Prinz Philipp und Jean-Paul Belmondo. Eindrucksvoll zurück kam hingegen James Bond – im Gegensatz zu seiner Arbeitsweise war er aber nicht sehr speditiv unterwegs, musste der Filmstart doch mehrmals verschoben werden.
Doch genug der leichteren Kost, das übergeordnete Thema war die Spaltung. Das Trennende erhielt – befeuert durch Tausende von Medienberichten – in unserer Gesellschaft mehr Gewicht als das Verbindende. Während eines Fussballspiels mag das Trennende dominieren, schliesslich gilt es den Gegner zu besiegen. Doch in der Regel rauft man sich nach dem Abpfiff zusammen und feiert gemeinsam das gute Spiel. Nicht so bei anderen Themen, die 2021 dominierten: Das Trennende dauert länger als 90 Minuten.
Beginnen wir von vorne: Am 1. Januar wurde die Scheidung vollzogen, das Vereinigte Königreich trat aus der EU aus. Das ganze Königreich? Nein, ein kleiner Teil – Nordirland – verblieb in der Zollunion mit der EU. Dies schuf neue Konfliktlinien, die bis heute anhalten. Durch den Brexit wurden eingespielte Lieferketten empfindlich gestört, die Bürokratie nahm zu, die Versorgung Grossbritanniens mit Waren des täglichen Bedarfs ab.
Ebenfalls im ersten Quartal erhielt der zweite Impfstoff gegen Corona grünes Licht der Behörden, beide zugelassenen Vakzine wurden für einen breiten Teil der Schweizer Bevölkerung verfügbar. Neue Trennlinien brachen auf. Eigentlich führten nicht die Zulassung oder die Verfügbarkeit zu einer Trennung, sondern die Reaktion eines kleineren Teils der Bevölkerung. Sei es aus Überzeugung, dass die Risiken den Nutzen der Impfung überwiegen, sei es aus Trotz, weil man «ein Zeichen setzen will» und es «denen da oben zeigen» will: Das Trennende zog sich mitten durch Familien, Freundeskreise und Arbeitsteams. Die meisten reagierten wohl – nach einem vorsichtigen Herantasten ans Thema und der Feststellung von Differenzen – mit einem selbstauferlegten Redeverbot. Nach aussen Schweigen und ein im inneren Monolog geführtes «das hätte ich aber nicht von Dir gedacht» sind wohl empirisch die häufigsten Nebenwirkungen der (Nicht-)Impfung.
Das Virus schaffte es auch, die Erde in neue No-go-areas zu teilen. Einreiseverbote und strenge Auflagen zur Einreise wurden vielerorts verfügt, Rückkehrer aus nahen und fernen Landen wurden in Quarantäne gesteckt. Doch nicht nur der grenzüberschreitende Personenverkehr war betroffen, sondern auch der internationale Warenverkehr. Impfstoff, medizinische Ausrüstungen und Verbrauchsgüter waren knapp, in der Folge führten zahlreiche Staaten Exportkontrollen ein. Ein in dieser Dimension in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte einmaliger Vorgang.
Nicht nur eine Trennung, sondern ein veritabler Graben diagnostizierte pünktlich zum 1. August der Präsident einer Bundesratspartei: Die sich in Hängematten lümmelnden Genossenschafter verbilligter Stadtwohnungen versus die dem kargen Feld Ernte abringende, fleissige Landbevölkerung. Das Bild mag politisch verfangen – in grossen Teilen falsch ist es trotzdem. In der Regel profitieren ländliche Regionen vom Finanzausgleich, die Mittel dazu werden von Unternehmen in Städten und städtisch geprägten Agglomerationen erwirtschaftet.
Der Graben lässt sich noch steigern: Gar in zwei verschiedenen Welten scheinen die höchsten Politiker der Schweiz und der EU zu leben. Nach dem Abbruch der Gespräche über ein Rahmenabkommen durch die Schweiz im Mai versuchte man sich im November in einer erneuten Annäherung. Der Schweizer Aussenminister reiste für Gespräche mit seinem Amtskollegen der EU nach Brüssel. Doch aus den getrennt durchgeführten Medienkonferenzen nach der Sitzung ist der Eindruck entstanden, die beiden Politiker hätten an unterschiedlichen Treffen teilgenommen. So stark differierten die Konklusionen und die vereinbarten nächsten Schritte.
Angesichts anderer Themen beinahe etwas in den Hintergrund rückte im November die COP26, die UN-Klimakonferenz in Glasgow. Über das «Wie weiter?» bei der Reduktion der Treibhausgase war man sich in wesentlichen Punkten nicht einig. Dies widerspiegelt sich in Teilen auch in der Bevölkerung: Längst gibt es Klimapaniker, die den Weltuntergang innert der nächsten Stunden erwarten und Klimaskeptiker, die am liebsten wie bisher weitermachen möchten. Eine solcherart aufgeladene Stimmung steht den notwendigen, wirkungsvollen Massnahmen politisch oft im Wege.
Dies nur einige Beispiele des 2021er Megatrends «Trennung». Im Gegensatz dazu stand die vielerorts öffentlich zelebrierte Inklusion. Eine grosse Zahl an Unternehmen hängten erstmals Regenbogen-Fahnen an die Gebäudefassade, in der Werbung wurden vermehrt Frauen sowie nicht-weisse Personen gezeigt, und die Sprache wird forciert inkludierend benutzt. Auch vor Klassikern wird dabei nicht Halt gemacht: Die für ihren Sprachwitz gelobten, über 50jährigen Übersetzungen der Carl-Barks-Comics durch Dr. Erika Fuchs wurden für Neueditionen dieses Jahr durch den Verlag «überarbeitet». Nur schon der Anschein einer möglichen Diskriminierung oder Trennung soll tunlichst vermieden werden.
In diesem «woken» Umfeld darf an dieser Stelle deshalb die Warnung nicht fehlen: Der vorliegende Text stammt von einem schon etwas älteren, weissen Mann mit grauen Haaren. Eine junge, People-of-color-Frau würde wohl für einen Text zum Jahresausklang andere Themen in den Vordergrund rücken. Danke, dass Sie als lesende Person trotzdem bis fast zum Ende durchgehalten haben.
Was wünsche ich mir für 2022? Natürlich ein Ende der Pandemie, aber vor allem etwas mehr Gelassenheit im Umgang miteinander. Denn in der Regel verbindet uns trotz aller Differenzen mehr, als uns trennt. In diesem Sinne: frohe, verbindende Festtage und ein gesundes 2022!