Seit 2006 veröffentlichen das Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, die Wirtschaftskammer Österreich und der Schweizer Think-Thank Avenir Suisse jährlich das DACH-Reformbarometer. Dieses Jahr werden die neuesten Ergebnisse zusammen mit einem Spezialkapitel über die Reregulierung des Finanzsektors am 9. Dezember in Berlin vorgestellt. Der Gesamtwert setzt sich aus drei Teilindizes für die Arbeitsmarktpolitik, die Sozialpolitik und die Finanz- und Steuerpolitik zusammen. Das Barometer soll zeigen, wie es um marktwirtschaftliche Reformen in jenen Politikbereichen steht, die für Wettbewerbsfähigkeit und Standortqualität der jeweiligen Länder entscheidend sind und bei denen auch die EU-Mitglieder Deutschland und Österreich eigenen Handlungsspielraum haben.

Wurden Verbesserungen erzielt, oder kam es im Gegenteil zu Rückschlägen? Dazu werden die relevanten wirtschaftspolitischen Massnahmen von den Experten der drei Institute nach einem einheitlichen Schema gewichtet und bewertet. Wie immer bei der Quantifizierung weitgehend qualitativer Fakten und erst recht bei internationalen Vergleichen sind die Ergebnisse voller Tücken und daher nur cum grano salis zu interpretieren, doch lassen sich aus einem Langfristvergleich über die letzten neun Jahre gleichwohl einige gültige Erkenntnisse gewinnen.

Fortschritte auf hohem Niveau

An erster Stelle ist zu nennen, dass die Schweiz erstaunlich reformfreudig war und ist. Sie hat im Beobachtungszeitraum mehr marktwirtschaftliche Reformen umgesetzt als ihre deutschsprachigen Nachbarländer. Das ist schon per se bemerkenswert, denn die Wahrnehmung ist eher, dass es in Deutschland und Österreich im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts mehr vorwärtsging. Erinnert sei etwa an die Agenda 2010 in Deutschland oder an die ambitiösen und umstrittenen Reformen der schwarz-blauen Koalition in Österreich.

Der Reformfortschritt der Schweiz ist aber noch beeindruckender, wenn man bedenkt, dass er von einem wesentlich höheren Ausgangsniveau aus erzielt wurde. Beim Start des Reformbarometers wollte man sich nämlich nicht auf die heikle Diskussion einlassen, wie die Standortqualität in den drei Ländern zu beurteilen sei. Deswegen legte man das Ausgangsniveau für alle drei Teilnehmer auf 100 fest, obwohl die Schweiz nach den damaligen Untersuchungen der Wettbewerbsfähigkeit besser dastand und in allen drei Teilindizes stärker marktwirtschaftlich ausgerichtet war als Deutschland und Österreich. Je besser man aber dasteht, desto schwieriger ist es, sich weiter zu verbessern. Der Schweiz ist dies gelungen.

Die Grafik zeigt ferner ein Zweites. Die Wahrnehmung einer grossen Reformfreudigkeit bei den Nachbarn im Norden und im Osten war nicht falsch. Zeitweise schnitten Deutschland und Österreich sehr wohl markant besser ab. Nur war dieser Elan nicht nachhaltig. Was die eine Regierung reformierte, machte die Nachfolgeregierung rückgängig, was an Fortschritten im einen Bereich erzielt wurde, wurde später durch Rückschritte in anderen Bereichen weitgehend wieder aufgehoben.

Die Schweizer Reformpolitik verlief dagegen viel weniger spektakulär, viel weniger volatil, dafür stetiger. Darin liegt ein doppelter Vorteil. Zum einen ist ein wirtschaftspolitisches Hüst und Hott mit hohen Kosten verbunden, zum anderen scheuen Investoren nichts so sehr wie Instabilität. Sie nehmen dafür zumindest in Demokratien in Kauf, dass manches zäher und langsamer abläuft.

Effizientere Fiskalpolitik

Schliesslich zeigen, drittens, die Teilindizes, dass in der Schweiz die grössten Fortschritte in der Finanz- und Steuerpolitik erreicht wurden. Natürlich überragt die Schuldenbremse alles andere, aber zu nennen sind auch die Neugestaltung des Finanzausgleichs, die den Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen stärkt und damit Wachstumsimpulse setzt, oder die Unternehmenssteuerreform II, die die Doppelbelastung der Gewinne deutlich reduziert hat. Der helvetische Arbeitsmarkt steht zwar ob seiner Flexibilität seit je relativ gut da, was mindestens teilweise die niedrige Arbeitslosigkeit erklärt, er verlor aber wegen der 2004 eingeführten «flankierenden Massnahmen» zum Schutz der Schweizer Erwerbstätigen vor Lohndumping einen Teil seines Vorsprungs. Durch die gleichzeitige Öffnung des Arbeitsmarktes gegenüber den neuen EU-Mitgliedstaaten, spätere Erleichterungen für Personen im Rentenalter beim Zugang zum Arbeitsmarkt und die Einführung der Schuldenbremse bei der Arbeitslosenversicherung wurden bei der Arbeitsmarktpolitik dennoch Verbesserungen erzielt.

Zehn verlorene Jahre

Deprimierend ist dagegen die Bilanz in der Sozialpolitik. Hier ist man nach fast zehn Jahren keinen Schritt weiter. Das ist eine gewaltige Herausforderung für die Zukunft, denn obwohl die Schweiz mit ihrem Drei-Säulen-System der Altersvorsorge weniger schlecht dasteht als andere, befindet sie sich mit Unterdeckungen, zu hohen Umwandlungssätzen und der Vernachlässigung der demografischen Zeitbombe ebenfalls auf einer abschüssigen Bahn. An der Erkenntnis kann es nicht liegen, denn die Berechnungen sind eindeutig. Der tiefe Stand des Barometers für diesen Politikbereich reflektiert vielmehr deutlich, dass die Widerstände gegenüber marktwirtschaftlichen Reformen nirgends so gross sind wie in der Sozialpolitik, dass es daher nirgends so viel Führungswillen und Mut braucht, um schmerzhafte, aber notwendige Reformen anzupacken – und dass es einem Grossteil des politischen Personals offensichtlich an beidem, an Mut und an Führungswillen, weitgehend fehlt.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Oktober 2011.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.