Während im europäischen Ausland die Gedenkfeiern zum Ende des Ersten Weltkrieges stattfinden, erinnert sich die neutrale Schweiz an den Generalstreik vom November 1918. Noch sinnieren die Historiker über die wahren Gründe der dreitätigen Eskalation und über deren Folgen. Unbeachtet hingegen bleibt die wichtigste Entwicklung seither: Streiks gibt es heutzutage fast keine mehr. In der Schweiz gehen dadurch pro tausend Angestellte jährlich nur drei Arbeitstage verloren. Das entspricht umgerechnet einer Streikstunde auf alle 300‘000 Stunden, in denen gearbeitet wird.
Diesbezüglich stellt die Schweiz keinen Sonderfall dar. Ähnlich selten wird die Arbeit in Deutschland, Dänemark oder in den Vereinigten Staaten niedergelegt. Zwar bleiben Frankreich, Belgien und Spanien die Streikhochburgen Europas, doch selbst dort entfaltet diese Arbeitskampfmassnahme kaum noch eine volkswirtschaftliche Bedeutung: Die verursachten Verluste liegen mittlerweile im Promillebereich des jeweiligen Bruttoinlandprodukts.
Arbeitsfrieden nützt allen
Gut so, denn bei einem Streik verlieren grundsätzlich alle: die Unternehmen, weil nicht produziert wird, und die Arbeitnehmer, weil sie nichts verdienen. Die Vorteile des Arbeitsfriedens kommen zudem auch unbeteiligten Dritten zugute. Investoren profitieren beispielsweise von einem sicheren Geschäftsumfeld.
Warum aber ist der Streik aus dem Repertoire des Arbeitskampfs beinahe verschwunden? Zum einen hat die verminderte Mobilisierungskraft der Gewerkschaften dazu beigetragen. In den OECD-Ländern hat der Organisationsgrad in den vergangenen dreissig Jahren um ein Drittel abgenommen, was primär auf die Tertiarisierung der Wirtschaft zurückzuführen ist. Dienstleistungsbranchen sind heterogener als die Industrie und somit gewerkschaftlich schwieriger zu organisieren.
Zum anderen dürfte auch die technologische Entwicklung eine Rolle spielen. Es reicht heute nicht mehr, den physischen Raum zu besetzen, man muss Präsenz auch virtuell markieren. Zudem haben Smartphones die Schlagkraft der Arbeitseinstellung geschmälert. Während des diesjährigen Streiks der Angestellten der Staatsbahn SNCF in Frankreich unterstützten Apps für Mitfahrgelegenheiten und Echtzeitfahrpläne die betroffenen Pendler.
Der wichtigste Grund für den Rückgang dürfte allerdings im veränderten institutionellen Umfeld liegen. In der Schweiz wie anderswo haben die Sozialpartner seit einem Jahrhundert einiges dazugelernt. Sie haben Regeln und Gewohnheiten dafür entwickelt, wie auch ohne Streik Verhandlungen geführt werden können. Dazu gehören beispielsweise strukturierte Lohnverhandlungen, Selbstregulierung und Gesamtarbeitsverträge (GAV).
Paradoxerweise ist dadurch der Einfluss der Gewerkschaften gestiegen – trotz Mitgliederschwund. In vielen europäischen Ländern übertrifft heute die Zahl der Arbeitnehmer, die unter den Schutz eines GAV fallen, diejenige der Gewerkschaftsmitglieder deutlich. In der Schweiz ist diese Diskrepanz sichtbarer geworden: Die Hälfte der Arbeitsverhältnisse untersteht hierzulande einem GAV, obwohl weniger als 20% der Angestellten Mitglied einer Gewerkschaft sind. Seit 1999 haben die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit weitere Erleichterungen für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) gebracht. Ein Viertel des Abdeckungsgrads von GAV wird heute durch eine AVE erreicht.
Mächtige Gewerkschaften
Die Ausdehnung der Einflusssphäre der Gewerkschaften geht mittlerweile so weit, dass die Frage ihrer Legitimität berechtigt erscheint. Aus Sicht des Gesamtinteresses verdienen die Gewerkschaften nur dann staatliche Unterstützung, wenn sie in den Unternehmen die Anliegen der Belegschaft wirksam bündeln und zum Ausdruck bringen, nicht jedoch, wenn sie den Strukturwandel verhindern oder das Produktivitätswachstum ausbremsen. Ihre Einstellung zu den neuen Arbeitsformen oder zu einem Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU lässt daran zweifeln – ob sie nun zum Streik aufrufen oder nicht.