Subsidiarität und Solidarität erfreuen sich in der Politik grösster Beliebtheit. Das ist in der Schweiz nicht anders als in der EU. Während emotionale Appelle an die Solidarität einer Grossgesellschaft beliebig interpretierbar bleiben, herrscht in Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip zumindest in der Zielsetzung Einigkeit. Dieses besagt, dass Sachverhalte nur dann auf EU-Ebene zu regulieren sind, wenn deren Ziele auf nationaler oder regionaler Ebene nicht erreichbar sind. Mit Absicht trägt deshalb das neueste Diskussionspapier von Avenir Suisse, das sich mit den aktuellen makroökonomischen Problemen und den Entwicklungsperspektiven der EU befasst, den Titel «Mehr Subsidiarität statt falsch verstandene Solidarität- Ein Aufruf zu Reformen in der EU».
Solidarität als Utopie ohne Bodenhaftung
Obwohl EU-Politiker zwar viel über Solidarität sprechen, findet sich der Grundsatz kaum im Unionsrecht. Dies ist insofern auch verständlich, als die Wirtschafts- und Währungsunion die Einhaltung fiskalischer Vorgaben fordert und auf der Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedländer aufbaut. Die Appelle an die Solidarität der ökonomisch besser gestellten Mitgliedländer hat vor allem im Zuge der 2008 einsetzenden Finanz- und Staatsschuldenkrise Auftrieb erhalten. So lassen sich die Hilfe an Griechenland und die Errichtung der Euro-Rettungsschirme (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität EFSF und Europäischer Stabilitätsmechanismus ESM) unter der Devise der Solidarität subsumieren. Der Weg zu einer echten Solidaritätsunion, wie sie vor allem mit Eurobonds und einem Schuldentilgungsfonds in Zusammenhang gebracht wird, würde eine fundamentale Anpassung im Primärrecht der EU erfordern. Eine Solidarhaftung ohne Kontrollmechanismen würde das Funktionieren der EU aufgrund der falschen Anreize zur weiteren Verschuldung ernsthaft gefährden.
Subsidiarität blieb ohne Wirkung
Die Subsidiarität wird im EU-Recht erstmalig im Art. 5 des Maastricht-Vertrages von 1993 verankert. Das Prinzip findet später auch im Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009 Eingang, wo es in Protokoll 2 festgehalten ist. Das Subsidiaritätsprinzip steht in enger Verbindung zum Prinzip der Verhältnismässigkeit, das verlangt, dass die Eingriffe im Rahmen des europäischen Sekundärrechts im Verhältnis zu den gesetzten Zielen stehen müssen.
Der Grundsatz der Subsidiarität hat in der bisherigen Entwicklung der EU praktisch keine Rolle gespielt, weil er nicht hinreichend definiert und deshalb auch nicht justiziabel gewesen ist, und weil sich das Prinzip nicht für die Vergangenheit anwenden lässt. Es scheint zudem paradox, dass ausgerechnet jenen EU-Akteuren die Umsetzung des Prinzips der Subsidiarität zukommt, deren Kompetenzen und Macht dadurch begrenzt werden sollte.
Was besagt die ökonomische Theorie des Föderalismus?
Eine konsequente Subsidiaritätspolitik würde der EU nach Ansicht von Avenir Suisse eine zukunftsgerichtete Perspektive eröffnen, die zur Vielfalt und Heterogenität ihrer Mitgliedländer passt. Die Kriterien für eine effiziente Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten sind aus der ökonomischen Theorie des Föderalismus bekannt. Für eine Ansiedelung von Kompetenzen auf supranationaler Ebene sprechen:
- Grenzüberschreitende externe Effekte einzelstaatlicher Massnahmen (z.B. in der Klimapolitik)
- Grössenvorteile, d. h. wenn eine Aufgabe durch eine übergeordnete politische Einheit kostengünstiger erbracht werden kann (z.B. die Verteidigungspolitik)
- Selbstbindungsprobleme, d.h. wenn Interessenkonflikte auf nationaler Ebene effiziente Lösungen verhindern (z.B. Beihilfekontrolle)
- Die Vermeidung eines «ruinösen» Regulierungswettbewerbs
Gegen eine Zentralisierung von Politikbereichen auf EU-Ebene sprechen die folgenden Gründe:
- Unterschiedliche Präferenzen der Mitgliedstaaten
- Informationsdefizite auf dezentraler Ebene
- Gravierende «Principal-Agent»-Probleme, d.h. wenn die Distanz zwischen der regulierenden (supranationalen) und der ausführenden (nationalen) Ebene zu gross ist
- Erhalt des Systemwettbewerbs, um mit unterschiedlichen Regulierungsansätzen Erfahrungen zu sammeln und Lernprozesse zu ermöglichen
Im Lichte dieser Kriterien fällt auf, dass die beiden Politikbereiche, die am zweckmässigsten auf europäischer Ebene angesiedelt würden, am weitesten davon entfernt sind: die Aussen- und die Verteidigungspolitik. Selbst die Vertretung der EU-Währungsunion im Internationalen Währungsfond (IWF) durch ein EU-Organ scheiterte am Widerstand der Mitgliedländer. Dafür schlägt sich die EU in der Arbeitsmark-, der Sozial- und in der Konsumentenschutzpolitik mit Sachverhalten herum, die wohl besser auf nationaler Ebene verblieben wären. Auch in Bezug auf die Agrar- und Regionalpolitik kann man sich fragen, ob die EU die richtige Ebene ist.
In der «Strategic Agenda for the Union in Times of Change», das der Europäische Rat im Juni 2014 verabschiedet hat, wird das Subsidiaritätsprinzip zwar erwähnt, aber nicht als prioritäre Aufgabe. Nun hat die neue EU-Kommission einen neuen Anlauf für eine griffigere Subsidiaritätspolitik unternommen und mit Frans Timmermans erstmals einen Super-Kommissar für Subsidiaritätsfragen ernannt. Es wird interessant sein, zu verfolgen, was daraus wird.
Weitergehende Informationen finden Sie im Diskussionspapier «Mehr Subsidiarität statt falscher Solidarität- Ein Aufruf zu Reformen in der EU»