Das Bild von leeren Verkaufsregalen dominierte in der ersten Welle der Covid-19-Pandemie im Frühjahr die Medienberichte. Die Furcht der Bevölkerung vor einer Güterknappheit bei Lebensmitteln und Haushaltswaren führte zu Hamsterkäufen. Ein eigentlicher «Kaufrausch» zeigte sich bei Spaghetti und Toilettenpapier. Selbst Ein-Personen-Haushalte stillten ihr Nachfragebedürfnis mit Jumbopackungen à 30 WC-Rollen. Teilweise kam das Personal der Detailhändler mit dem Auffüllen der Regale kaum nach.
Trotz den Ängsten vor Mangellagen: Ein Versorgungsengpass bei Gütern des täglichen Bedarfs war zu keinem Zeitpunkt gegeben. Eine Flexibilisierung des Arbeitsrechts könnte übrigens in zukünftigen, ähnlichen Fällen dazu beitragen, dass im Detailhandel die Regale auch über Nacht aufgefüllt werden können. Dies hätte den Vorteil, das psychologische Phänomen der Hamsterkäufe infolge halbleerer Regale einzudämmen.
Dennoch: Die Versorgungssicherheit ist plötzlich in aller Munde, gefolgt von Re-Nationalisierungs-Forderungen der Politik und getrieben von der Befürchtung, im Notfall keinen Zugriff auf lebensnotwendige Güter zu haben. Die Schweizer Sozialdemokraten postulieren eine «Reindustrialisierung» der heimischen Wirtschaft mit der Verlagerung von Produktionsketten in die Schweiz. Die Grünen nehmen den vermeintlichen Versorgungsengpass zum Anlass, gleich zu einem Totalumbau der freien Marktwirtschaft aufzurufen, hin zu einem «nationalen Green New Deal» – selbstverständlich zu finanzieren mit milliardenschweren Subventionen durch die Allgemeinheit.
Selbst die CVP spricht sich für einen «Selbstversorgungsgrad» beim Gesundheitspersonal aus, während die SVP gleich gänzlich auf die Wiedereinführung der Personenfreizügigkeit verzichten wollte und für eine Aufrechterhaltung der bürokratischen und zeitaufwendigen Grenzkontrollen plädierte. Verdrängt wird angesichts solch öffentlichkeitswirksamer Forderungen, dass EU/Efta-Bürger heute 19 Prozent aller Arbeitsstellen im Gesundheitswesen bekleiden, 4 Prozent davon sind Grenzgängerinnen und Grenzgänger.
Frohlockende Antiglobalisierungsbewegung
«America first» als Slogan einer ökonomischen Re-Nationalisierungspolitik gilt in Corona-Zeiten also nicht mehr nur für die USA. «Our country first» heisst es mittlerweile für zahlreiche Länder und in allen Weltregionen, um globale Kooperation zurückzudrängen, Exporte essenzieller Güter zu verbieten oder die Grenzen für den freien Personenverkehr zu schliessen.
Symbolpolitik, auch wenn ökonomisch unsinnig, vermittelte im Frühjahr 2020 den Eindruck, dass man das Heft in der eigenen Hand hält, durch Rückzug auf das Inland und die Abgrenzung gegenüber dem Ausland, in dem angeblich alles viel schlimmer sei. Die Apologeten der Antiglobalisierungsbewegung frohlockten bereits und bekräftigten ihre Überzeugung, wonach die internationalen Wertschöpfungsketten das Risiko erhöht hätten, im entscheidenden Moment keinen Zugriff auf die Produktion beziehungsweise die benötigten Waren zu haben.
Würde «Switzerland first» funktionieren? Heute ist die Schweiz eines der am stärksten globalisierten Länder. Die Wohlfahrtsgewinne aus der internationalen Arbeitsteilung sind bei uns weltweit am höchsten. Der Schweizer Aussenhandel beträgt – gemessen am Bruttoinlandprodukt – hohe 96 Prozent. Die Exportquote kletterte seit 2002 um 8 Prozent auf 52 Prozent des BIP. All das wirkt auch als Beschäftigungsmotor: Rund 1,9 Millionen Beschäftigte profitieren hierzulande vom Zugang zu ausländischen Märkten. Es ist offensichtlich: Die internationale Verflechtung der Schweiz ist die Grundlage unseres Wohlstands.
Aufgrund der beschränkten Grösse des Schweizer Binnenmarkts können gar nicht alle im Inland benötigten Waren und Dienstleistungen ökonomisch effizient hergestellt bzw. angeboten werden. Die Schweizer Volkswirtschaft charakterisiert sich durch eine Spezialisierung auf diejenigen Branchen, Güter und Dienstleistungen oder Teile von Wertschöpfungsketten, in denen sie international konkurrenzfähig ist.
Bezugsquellen diversifizieren
Dem Ruf nach einer Erhöhung der Versorgungssicherheit liegt der politische Irrglaube zugrunde, wonach dies nur durch eine Erhöhung der Selbstversorgung zu bewerkstelligen sei. Doch Versorgungssicherheit ist nicht gleich Selbstversorgung. Beispiel Lebensmittel: Die Versorgungssicherheit wird am besten gewährleistet, nicht indem zu jedem Zeitpunkt möglichst viele Lebensmittel im Inland produziert werden, sondern indem einerseits die Bezugsquellen für Nahrungsmittel diversifiziert werden (etwa durch den Abschluss möglichst vieler Freihandelsabkommen), anderseits durch die Schonung natürlicher Grundlagen und der Artenvielfalt für die Ernährungswirtschaft, um die zukünftige Produktivität nicht zu beeinträchtigen.
Selbst während des Zweiten Weltkriegs und der legendären «Anbauschlacht» war die Schweiz auf Lebensmittelimporte angewiesen. Auch für viele andere essenzielle Güter wie Strom oder Produkte der Gesundheitsversorgung sollte die Strategie nicht Abschottung und Autarkie, sondern wirtschaftliche Offenheit heissen. Der Ausbau an Freihandelsabkommen würde die Bemühungen der Unternehmen unterstützen, ihre Bezugsquellen für Vorprodukte und Komponenten zu diversifizieren. Eine solche Diversifikation auf der Beschaffungs- wie auch auf der Absatzseite stärkt die Resilienz eines einzelnen Unternehmens wie der Volkswirtschaft gesamthaft.
Die Offenheit der Schweizer Volkswirtschaft trägt damit entscheidend dazu bei, Krisen wie die Pandemie erfolgreich zu bewältigen. Würden Schweizer Unternehmen durch die nationale Politik gezwungen, die Produktion aus preiswerteren Regionen in den kostenintensiveren Schweizer Heimmarkt zurückzuverlagern, dürfte dies infolge der hohen Faktorkosten hierzulande kaum neue Stellen schaffen. Vielmehr würden die Unternehmen versuchen, das Tempo der Automatisierung zu beschleunigen.
Nicht auszuschliessen wäre, dass eine politisch den Unternehmen aufgezwungene Re-Nationalisierung der Produktion zu einer grundsätzlichen Verlagerung von Wirkungsstätten ins Ausland führt. Eine Re-Nationalisierung der Schweizer Wirtschaft erweist sich also als ökonomische Sackgasse.
Dieser Text ist in der Publikation «Kompass für die Schweiz» zum Credit-Suisse-Sorgenbarometer 2020 erschienen.