Das wirtschaftliche Potenzial einer freieren Personenmobilität steht in starkem Kontrast zur restriktiven Einstellung vieler ortsansässiger Individuen gegenüber der Zuwanderung. Diese Diskrepanzen sind nicht neu. Die Zuwanderung und ihre negativen Konsequenzen für Gesellschaft und Umwelt wurden bereits überschätzt und beklagt, als sowohl die absoluten Bevölkerungs- und Zuwanderungszahlen als auch der Anteil der Zuwanderer an der Bevölkerung deutlich tiefer lagen. Deshalb überrascht es nicht, dass immer wieder Systeme zur administrativen Steuerung der Migration entworfen wurden, was sich nicht zuletzt in unterschiedlichen Zuwanderungsraten niederschlägt (auch wenn diese Systeme nur einen Bestimmungsfaktor der Zuwanderung unter vielen darstellen). Das «avenir spezial: Gelenkte Zuwanderung» stellt die wichtigsten davon vor und prüft eine mögliche Anwendung auf die Schweizer Situation nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014. Die Systeme lassen sich in sechs Kategorien gliedern, die hier zur Veranschaulichung kurz beschrieben werden – wobei festzuhalten ist, dass kein einziges Land eines dieser Modelle in reiner Form anwendet.

Unterschiede in der Zuwanderung in Europa | avenir suisse

1. «Freie» Einwanderung

Migration ist nie vollkommen frei. Transportkosten, Arbeitsnachfrage, Mieten und Lebenshaltungskosten im Zielland rationieren die Migration auch dann, wenn keinerlei administrative Voraussetzungen zur Einwanderung bestehen. In diesem Kontext ist es wohl angebrachter, von Niederlassungsfreiheit zu reden. Die Schweiz gestand zwischen 1860 und 1914 die Niederlassungsfreiheit für Ausländer ohne grosse Formalitäten zu. Einzig die Deutschen mussten ein Leumundszeugnis vorlegen (HLS, 2006). Es wird geschätzt, dass sich zwischen 1888 und 1910 jährlich rund 12 000 Personen aus dem Ausland in der Schweiz niederliessen, was 0,4 % der Bevölkerung entsprach. Schon damals konzentrierte sich die Zuwanderung auf die grösseren Städte. Beispielsweise lag 1900 der Anteil der im Ausland Geborenen an der Genfer Stadtbevölkerung bei 27,6 %.

2. An Erwerbstätigkeit oder Vermögen gekoppeltes Einwanderungsrecht

Das seit 2002/2006 zwischen der Schweiz und der EU praktizierte Regime der Personenfreizügigkeit gewährleistet die Niederlassungsfreiheit, sofern eine Person erwerbstätig ist oder den Nachweis ausreichender Mittel erbringen kann. Damit wird das Modell der freien Zuwanderung aus dem 19. Jahrhundert teilweise an den Sozialstaat des 20. Jahrhundert mit seinem dichten Netz an Sozialleistungen angepasst.

3. Angebotsgetriebene Kontingentierung

In diesem Modell legt das Zielland eine Höchstgrenze von Einreisebewilligungen fest, die weitgehend unabhängig davon ist, wie gross die Nachfrage nach den Qualifikationen der Zuwanderer ist. Die Zahl der Bewilligungen wird in der Regel nicht der Konjunktur angepasst. Das bekannteste Beispiel dafür bildet das komplexe Einwanderungssystem der USA. Gut 60 % der Bewilligungen werden für Migrantenkategorien erteilt, die nicht im Zusammenhang mit einer Beschäftigung stehen, vorwiegend für den Familiennachzug. Die meisten davon werden nach dem «firstcome, first-served»-Prinzip erteilt, ein Teil wird verlost, wobei zahlreiche zusätzliche administrative Kriterien erfüllt werden müssen.

4. Punktesystem

In einem Punktesystem legt das Zielland eine Liste von wünschenswerten Kriterien fest, beispielsweise Sprachkompetenzen oder Merkmale, die auf ein hohes Humankapital hinweisen (Bildung, Arbeitserfahrung). Je mehr Kriterien die Einwanderungskandidaten erfüllen, desto besser stehen ihre Chancen, eine Einreisebewilligung zu erhalten. Auch in diesem System wird die Zahl der Bewilligungen üblicherweise nicht der Konjunktur angepasst. Kanada, Neuseeland, Australien und Hongkong steuern die Einwanderung mit einem Punktesystem.

5. Nachfragegetriebene Kontingentierung

Bei einer nachfragegetriebenen Kontingentierung wählen die Unternehmen im Zielland die Zuwanderer nach eigenen Kriterien aus. Die Behörden stellen dazu Bedingungen für die Anstellung, z. B. Mindestqualifikationen oder – löhne. Zahlreiche Länder wenden dieses System – oft in Kombination mit anderen Verfahren – an, darunter Schweden, Spanien, Norwegen und – für ca. 40 % der Migranten – die USA.

6. Marktbasierte Ansätze

Bei marktbasierten Ansätzen wird der Preismechanismus verwendet, um die Rationierung der Zuwanderung zu erreichen. Die Zahl der Niederlassungsbewilligungen wird im politischen Prozess festgelegt. Diese werden dann – je nach Systemvariante – den meistbietenden Migranten oder Unternehmen im Zielland «verkauft» (Auktion). Auch die Erhebung von Gebühren und Preisen fällt in diese Kategorie. Bisher wurden solche «Preise» aber nur sporadisch eingesetzt, am ehesten im Falle der Einbürgerung, nicht der Niederlassungsfreiheit. So war es in der Schweiz ab 1900 üblich, einkommensabhängige Einbürgerungsgebühren zu verlangen, die bis zu einem Jahreslohn betragen konnten. Die von zahlreichen Ökonomen vorgeschlagenen, modernen marktbasierten Ansätze sehen ein Auktionieren beim Einreiserecht vor, oft in Kombination mit weiteren Mechanismen.

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 Mehr zu diesem Thema finden Sie in der Publikation «avenir spezial: Gelenkte Zuwanderung»