Die EU hat mit ihrer Doppelstrategie aus Finanzhilfe und Spardiktat in schwierigen Zeiten durchaus Führungskraft bewiesen. Gleichwohl ist die Krise noch nicht überwunden: die EU leidet heute nicht nur unter überschuldeten Staatshaushalten, sondern auch unter der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit zahlreicher Mitgliedstaaten. Zudem läuft die Europäische Zentralbank (EZB) Gefahr, mit ihrem geldpolitischen Mandat in Konflikt zu geraten. Ungewiss ist auch, ob der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt und der Fiskalpakt in einem zukünftigen Ernstfall auch wirklich Biss haben werden.

In diesem Zusammenhang skizzierte Samuel Rutz vier Möglichkeiten, wohin sich die EU in Zukunft entwickeln könnte, wenn sie ihre Wirtschaft und ihre Institutionen effektiv stärken wolle:

  1. Die Schaffung einer europäischen Fiskalunion mit einer europäischen Wirtschaftsregierung.
  2. Der Ausbau der Zusammenarbeit nach Massgabe der sogenannten variablen Geometrie.
  3. Die Stärkung des Maastricht-Vertrages inklusive der Ergänzung der Währungsunion um eine funktionierende Bankenunion.
  4. Eine konsequente Subsidiaritätspolitik.

Unabhängig davon, welchen Weg die EU einschlage, brauche es für eine erfolgreiche Reformpolitik zwei Dinge: Einen generellen Konsens über die Ziele und eine bessere Koordination der politischen und wirtschaftlichen Ziele der EU mit den Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger. Entscheidend, so Rutz, sei jedoch letztlich der politische Wille, das vorhandene Regelwerk trotz sich eintrübenden Konjunkturaussichten und geopolitischen Spannungen konsequent anzuwenden. «Dies ist für die Rückgewinnung des Vertrauens der Wirtschaftsakteure und für die Stärkung der Glaubwürdigkeit der EU-Verantwortlichen wichtiger als immer neue wohlklingende Visionen und utopische Ziele.» Nach Überzeugung von Avenir Suisse erhielte die EU vor allem durch eine konsequente und systematische Politik der Subsidiarität und der variablen Geometrie eine Perspektive, die zur Vielfalt Europas passe.

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Diskutieren über die Zukunft der EU: Samuel Rutz, Gerhard Schwarz und Günter Verheugen (von links)

Günter Verheugen entwickelte in seinem Referat drei Szenarien, wohin sich die EU entwickeln könnte. Erstens sprach er von der Gefahr, dass die EU trotz der Krise einfach so weiter agiere wie bisher und nicht zu umfassenden Reformen bereit sei. Zweitens könne es sein, dass es zu einer «Explosion» bzw. «Implosion» der EU komme, weil die nationalen Fliehkräfte innerhalb einzelner Mitgliedstaaten zu stark würden. Als drittes mögliches Szenario beschrieb er den plötzlichen Kollaps, falls die Krise sich ausweite und die Instrumente der EZB nicht mehr griffen. Er betonte jedoch, dass er das Scheitern der EU zwar als mögliches, aber unwahrscheinliches Szenario sehe. Allerdings hoffe er sehr auf die Reformkräfte innerhalb der EU, um das Wirtschaftswachstum zu steigern, die Zweifel an der Leistungsfähigkeit der EU zu beseitigen und das Vertrauen in den europäischen Standort wieder zu stärken. Verheugen ist überzeugt, dass wenn der politische Wille, sich an die existierenden Verträge und Vereinbarungen zu halten, vorhanden ist, dieser für die Stabilisierung der EU ausreichte. Bei der abschliessenden Fragerunde gab Verheugen auf eine entsprechende Frage zur aktuellen Situation «Schweiz-EU» zu Protokoll, dass es aus seiner Sicht für die EU völlig ausgeschlossen sei, das Prinzip der Personenfreizügigkeit zur Disposition zu stellen – dieses sei schlicht «unverhandelbar».

Publikation:

«Mehr Subsidiarität statt falscher Solidarität – Ein Aufruf zu Reformen in der EU» von Alois Bischofberger, Samuel Rutz und Rudolf Walser, 30 Seiten, Diskussionspapier, Avenir Suisse