Der Schweizer Souverän hat am Abstimmungssonntag vor einigen Tagen mit seiner Ablehnung der Begrenzungsinitiative deutlich Ja zu stabilen bilateralen Beziehungen mit der EU gesagt – wie an zahlreichen vorangehenden Abstimmungen seit dem Inkrafttreten der Bilateralen vor fast 20 Jahren. Für die Gegner der Personenfreizügigkeit unterminieren die Bilateralen dagegen die Schweizer Souveränität und damit die nationale Selbstbestimmung.

Der Souveränitätsbegriff im Wandel der Zeit

Warum diese Kritik am vermeintlichen Souveränitätsverlust und was bedeutet Schweizer Souveränität überhaupt? Für die Geschichtsforschung gilt der Westfälische Friede von 1648 als die Geburtsstunde der schweizerischen Souveränität, indem das Prinzip der souveränen Staatlichkeit verankert wurde. Die europäischen Mächte verstanden sich nicht mehr als Hierarchie unterschiedlicher Herrschaftsträger unter Papst und Kaiser, sondern als Gruppe prinzipiell gleichberechtigter, unabhängiger, souveräner Staaten. Souveränität war jedoch stets ein umstrittener und nie ein allgemeingültiger Begriff. Entsprechend hat sich das Souveränitätsverständnis im Lauf der Geschichte gewandelt.

Souveränität kann demnach heute nicht mehr ausschliesslich nur nationale Autonomie und Selbstbestimmung bedeuten, Politologen verstehen sie auch als Mitbestimmung auf internationaler Ebene. Das ist bedingt durch die gegenseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten. Dazu kommt, dass zahlreiche bedeutende Aufgaben wie der Aussenhandel, aber auch gesellschaftliche Herausforderungen wie die Migration und der Umweltschutz nationale Grenzen definitionsgemäss überschreiten.

Dieser «neuen Realität» entspricht das heute weitverbreitete Konzept der «geteilten Souveränität», wo die wechselseitigen Verantwortung und Zuständigkeiten jeweils unter Staaten verhandelt werden. Die Souveränität wird übrigens auch in der Schweiz geteilt, indem die Kantone souverän sind, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist.

Souveränitätstransfer auf eine internationale Ebene

Zur Souveränität eines Staates gehört heute aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeiten und Vernetzungen viel stärker als früher, seinen Einfluss auf internationaler Ebene geltend machen zu können – also auch dort die Kompetenz zu haben, Recht mitzusetzen. Die Rechtswissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von einer «multi-level governance». Diese Interdependenz zwischen souveränen Staaten kann aber auch zu einer Delegation von Entscheiden von der nationalen auf die internationale, zwischenstaatliche oder auch supranationale Ebene führen. Damit erfolgt dann ein «Souveränitätstransfer».

Da globale Fragestellungen zunehmend komplexer werden und oft vermehrt einer internationalen Abstimmung bedürfen, ist auch die Schweiz mit der staatspolitischen Fragestellung konfrontiert, inwieweit ein Souveränitätstransfer von der nationalen Ebene auf eine übergeordnete Stufe stattfinden soll.

Trotz der internationalen Ausrichtung der Schweizer Wirtschaft sind die ökonomischen Verflechtungen mit dem EU-Binnenmarkt mit Abstand am relevantesten. (Andres Canavesi, Unsplash)

Bewusster Souveränitätstransfer durch Schweizer Souverän

Mit Blick auf die schweizerische Souveränität, verstanden als grösstmögliche Selbstbestimmung, ist entscheidend, ob dieser Souveränitätstransfer bewusst vorgenommen wird. In unserer direkten Demokratie ist dies gegeben, die Stimmbevölkerung kann unmittelbar von ihrer Rechtssetzungsmacht Gebrauch machen. Ein solcher Souveränitätstransfer kann damit durch einen Entscheid des Schweizer Souveräns auch wieder rückgängig gemacht werden, selbst wenn das allenfalls mit ökonomischen Folgekosten verbunden wäre.

In den bilateralen Abkommen hatte die Schweiz Einfluss auf den Inhalt beim Aushandeln der Abkommen. Mit der selbstbestimmten Zustimmung zu den Bilateralen I (und in der Folge auch zu den Bilateralen II) stimmte der Schweizer Souverän im Sinne eines Souveränitätstransfers Abkommen zu, die sich auf europäisches Recht beziehen oder sich daran anlehnen.

Europäisierung des schweizerischen Rechts als Tatsache

Dies drückt sich auch im «autonomen Nachvollzug» aus, d.h. die inhaltliche Anpassung von schweizerischem Recht an dasjenige der EU. Dieses gemeinsame Regelwerk im europäischen Binnenmarkt, das den administrativen Aufwand auch für die Schweizer Unternehmen deutlich senkt, führt konsequenterweise zu einer Europäisierung des schweizerischen Rechts.

Eine Studie, die für die Jahre 2004–2007 den Einfluss von europäischem Recht auf die Schweizer Gesetzgebung untersuchte, kam zum Schluss, dass rund die Hälfte der neu formulierten Gesetze in diesen Jahren Europa-Bezug hatte. Die Europäisierung des schweizerischen Rechts ist damit heute eine Tatsache.

Trotz der internationalen Ausrichtung der Schweizer Wirtschaft – und einer Vielzahl an weltweiten Freihandelsabkommen – sind die ökonomischen Verflechtungen mit dem EU-Binnenmarkt mit Abstand am relevantesten. Wer in vergangenen und anstehenden Abstimmungskämpfen zu den Bilateralen vor dem Ausverkauf der Schweizer Souveränität warnt, blendet aus, dass die Schweizer Stimmbevölkerung aufgrund der wechselseitigen Verflechtungen mit den europäischen Nachbarn einem gewissen Souveränitätstransfer bereits in der Vergangenheit mehrfach zugestimmt hat. Über ihr eigenes Souveränitätsverständnis muss sich die Schweiz also primär gegenüber der EU bewusst werden.