Das Ende der Geschichte? Der endgültige Triumph des wirtschaftlichen Liberalismus in Symbiose mit demokratisch verfasster Staatlichkeit? Diese 1989 vom amerikanischen Politologen Francis Fukuyama geäusserten und enthusiastisch gefeierten Gedanken erscheinen im heutigen Kontext fast wie ein Hohn: Die demokratischen Fundamente der EU-Länder und der USA werden hinterfragt, während illiberale Staaten wie China und Russland ihre Machtbasis ausbauten. Die Verheissungen des Arabischen Frühlings verliefen im Sand, und terroristische Gefahren stellen die offenen Gesellschaften vor eine Bewährungsprobe. Der zweite internationale Think-Tank-Summit, der von Tibère Adler, Directeur Romand, organisiert wurde, widmete sich «aus aktuellem Anlass» den Zusammenhängen von Globalisierung und Demokratie. In seinem Einleitungsvotum erinnerte Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder daran, dass Fragestellungen wie die Weiterentwicklung der Demokratien und der globalen Wertschöpfungsketten nicht nur abstrakt diskutiert werden sollten, sondern immer auch auf ihre konkrete Wirkung für die Bürgerinnen und Bürger zu analysieren sind.

«Illiberale» Demokratien

Die Publizistin Karen Horn unternahm gleich zum Auftakt eine begriffliche Abgrenzung. Weitherum findet der Begriff der Demokratie weiterhin viel Achtung, während jener der Freiheit immer mehr unter Beschuss kommt. Tatsächlich zählte der amerikanische Think-Tank Freedom House im Jahr 2017 unter 200 untersuchten Staaten 123 Demokratien – gegenüber nur 100 zum Beginn der 1990er Jahre. Das zugrundeliegende Problem: Es gibt immer mehr «illiberale» Demokratien wie z.B. Russland oder die Türkei, in denen der Begriff der Demokratie «zu einer leeren Hülse» mutierte, wie es Roger de Weck formulierte. Die Konferenzteilnehmer diskutierten mehrere Ursachen, warum zurzeit die einzigartige Kombination von Demokratie und echter, individueller Freiheit an vielen Orten unter Druck gerät:

Zum einen sinkt das allgemeine Vertrauen der Menschen in die Politik und in Experten, was mit einer in vielen Ländern zu beobachtenden inneren Spaltung der Gesellschaft einhergeht. Für die USA schätzt man, dass sich mittlerweile noch ein Drittel der Wähler sowohl zu liberalen als auch konservativen Werten bekennt (gegenüber durchschnittlichen 50% in früheren Jahren). Diese sich akzentuierende «Silomentalität» wird durch die sozialen Medien noch verstärkt (wenn auch bisher alles andere als klar ist, in welchem Umfang dies stattfindet).

Die Haltung der Menschen gegenüber den demokratischen Institutionen korreliert überdies mit der Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum. Théophile Lenoir vom Pariser Institut Montaigne zitierte eine Studie des MIT, wonach die Bevölkerung im Norden Europas viel grössere Zustimmungsraten zum demokratischen System aufweist als in Südeuropa, was auch mit der unterschiedlichen Entwicklung der Lebensqualität einhergeht. Je ungleicher die Verteilung in einem Land wahrgenommen wird, desto grösser ist also die potenzielle Kritik an dessen Institutionen. «Wohlstand ist zu einem gewissen Grad auch Opium für die Menschen», warf Karen Horn in die Diskussion ein.

Mohammad-Mahmoud Ould Mohamedou vom Graduate Institute of Geneva beurteilte auch die Aussenpolitik westlicher Staaten kritisch. Besonders im Nahen Osten empfinde die Bevölkerung die allzu tolerante Haltung gegenüber den wieder an die Macht zurückgespülten Despoten als Affront. In den ersten Jahren nach dem Arabischen Frühling hätte es anstelle der oft bevormundenden Haltung aus dem Westen zudem eine aktivere technische Unterstützung beim Aufbau der notwendigen demokratischen Institutionen gebraucht.

Bei der Basis ansetzen

Bei allem Gegenwind, der den liberalen Demokratien in der modernen Welt entgegenbläst, gibt es einzelne, durchaus vielversprechende Entwicklungen. Philippe Narval, der Direktor des österreichischen Forum Alpbach, berichtete über Experimente mit der partizipativen Demokratie in Deutschland und Irland, wo Bürgerversammlungen zu guten politischen Resultaten führten, und über eine Parlamentarierin aus Frankreich, die bei der Konzeptionierung eines Gesetzesentwurfs sehr bewusst auf Crowd Intelligence setzte. Die wichtige Botschaft: Demokratische Entscheidungsprozesse dürfen nicht auf die Politik beschränkt sein – ­und sie können auch nicht früh genug gelernt werden: Im österreichischen Bundesland Vorarlberg etwa gibt es Kindergärten, die mit Hilfe direktdemokratischer Entscheidungsprozesse nicht nur Probleme unter den Kindern lösen, sondern auch ihre Motivation steigern konnten.

Gibt es eine kritische Grösse für Demokratien?

Über die Rolle, die der Digitalisierung zukommt, gab es verschiedenste Voten. Sie reichten von annähernder Resignation à la «We might be facing the death of expertise» über wissenschaftliche Analysen des Filter-Bubble-Phänomens bis zu  Zuversicht, dass die technischen Probleme letztlich auch mit Technik gelöst werden könnten.

Einigkeit herrschte zumindest darüber, dass direkte Demokratie in kleineren Strukturen relativ einfach gelebt werden kann. Aber wie können solche Prozesse im grossen Kontext wie einer EU, der «grösste Union von Demokratien» (Pawel Świeboda) umgesetzt werden? In dieser Frage zeigten sich die älteren Konferenzteilnehmer eher skeptisch, während jüngere Semester auf die Digitalisierung setzten. Vielleicht könnte es dereinst gelingen, demokratische Entscheidungsfindung auch über das Netz zu organisieren und so die Kluft zwischen politischen Eliten und Bevölkerung zu verringern. Auf jeden Fall sind derartige Prozesse nicht auf Demokratien beschränkt. Auch in autoritär regierten Staaten gibt es dank der sozialen Medien einen Druck aus der Zivilgesellschaft.

Einer der zentralen Begriffe in den Diskussionen über die Krise der EU und über die ins Stocken gekommenen internationalen Freihandelsbemühungen war «Kompromissfähigkeit». Um Kompromisse einzugehen, müssen die Nationalstaaten aber Zugeständnisse bei ihrer Souveränität machen. Dies wird letztlich nur möglich sein, wenn es gelingt, das Grundvertrauen der Menschen zu stärken – sowohl in die staatlichen Institutionen als auch in das Wirken der Globalisierung. Gerade darum muss den wahren oder vermeintlichen Verlierern der Globalisierung, aber auch der Digitalisierung mehr Beachtung geschenkt werden.

Francis Fukuyamas Irrtum lag letztlich darin, dass er – beflügelt von der euphorischen Stimmung jener Zeit – eine Momentaufnahme zum Dauerzustand erklärte. Aus heutiger Sicht scheint klar: Die Welt wird sich nie auf ein einziges Modell festlegen. Aber genauso wenig ist die Demokratie ein Auslaufmodell. «Wir müssen klarstellen, dass es das System ist, in dem wir gerne leben», sagte ein Votant. Die historische Evidenz lässt vermuten, dass viele Staaten, die in den letzten Jahren Rückschritte machten, sich in der Zukunft wieder in Richtung von mehr Freiheit und Demokratie bewegen werden. Daraus folgt noch ein weiterer Gedanke: Der Einsatz für die Werte von Freiheit und Demokratie bleibt bis auf Weiteres eine anstrengende, aber lohnende Arbeit.