Die Schweiz, der Frosch im Kochtopf? Das Bild mag provozieren, dennoch ist die Frage zu stellen, ob es nicht im gewissen Mass zutrifft: dass die Temperatur vorerst unmerklich steigt, also sich die Situation für unser Land schleichend verschlechtert, wir das aber nicht bemerken. Nur sind hier nicht die klimatischen, sondern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gemeint.

Noch ist die Schweiz in vielen Bereichen Weltspitze. Der Privatsektor ist überdurchschnittlich innovativ, die Wirtschaftsleistung hoch und die Einkommensverteilung ausgewogen. Nun lehrt aber die Geschichte, dass paradiesische Zustände selten von ewiger Dauer sind. Ein Bonmot des zweiten deutschen Bundeskanzlers Ludwig Erhard besagt, dass Wohlstand zu bewahren noch schwerer sei, als ihn zu erwerben. Das Verwalten des Status quo kann also definitiv keine Maxime sein.

Kollektives Sättigungsgefühl

Dessen ungeachtet steht dem erfreulichen Wohlstandszuwachs ein gewisses kollektives Sättigungsgefühl gegenüber. Und so bleibt weitgehend unbeachtet, dass die Temperatur im wirtschaftspolitischen Kochtopf tatsächlich steigt: Bei diversen vorlaufenden Erfolgsindikatoren rutscht unser Land kontinuierlich ab. So sind die bürokratischen Hürden zur Unternehmensgründung enorm. Von 141 untersuchten Ländern liegt die Schweiz nur auf Rang 60, bei der Komplexität des Zollsystems gar auf dem letzten Platz. Im diesjährigen Wettbewerbsbericht des WEF hat die Schweiz Plätze eingebüsst.

Hinter solchen Verschlechterungen stehen längerfristige Tendenzen. Denn gleichzeitig drücken globale, technologische und demografische Entwicklungen unerbittlich auf die gewachsenen Schweizer Strukturen. Im Bereich des internationalen Handels befindet sich der für unser Land bedeutende Multilateralismus auf dem Rückzug. Dahinter stehen strategische Machtverschiebungen. Während um die Jahrtausendwende noch die allermeisten Länder ein grösseres Handelsvolumen mit den USA als mit China aufwiesen, ist es heute umgekehrt. Das bleibt nicht ohne Folgen auf dem internationalen Parkett, wo die Spannungen zwischen den beiden Ländern dominieren.

Neben geopolitischen Verschiebungen sind die Konstanten des Wandels der technologische Fortschritt und die steigende Lebenserwartung. Die Digitalisierung erfasst mittlerweile alle Lebens- und Arbeitsbereiche, und die Alterung der Bevölkerung schreitet zügig voran – täglich steigt die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz um rund drei Stunden.

Wettbewerb spornt zu Höchstleistungen an. (Paolo Candelo, Unsplash)

Doch anstatt diese Umwälzungen in einen strategischen Rahmen zu setzen, verzettelt sich Helvetia seit längerem in einem unproduktiven Klein-Klein der Tagespolitik. Taucht ein Problem auf, macht sich oft ein fiebriger Betätigungsdrang breit, der rasch nach staatlichen Eingriffen ruft. Die Emotionalisierung des noch kleinsten Alltagsproblems hat die einstige helvetische Tugend der Nüchternheit in die Schranken gewiesen. Und so jagt gerade in der Umweltpolitik derzeit eine radikale Forderung die nächste. Statt den offenkundigen Klimawandel mit effizienten und effektiven Massnahmen anzupacken, steht Symbolpolitik hoch im Kurs: Es wird ein Fleischverbot an Uni-Mensen gefordert und die Limmat grün eingefärbt.

Fortschrittskritik und Technologieaversion

Der monothematische Zeitgeist scheint alles dem Klimawandel unterordnen zu wollen. Sorge muss dem Wirtschaftsstandort Schweiz bereiten, dass daraus eine neue Dimension der Fortschrittskritik und der Technologieaversion entwächst. Exemplarisch dafür steht die neue Volksinitiative, die unter dem Titel «Für einen gesundheitsverträglichen und stromsparenden Mobilfunk»Ende September lanciert wurde. Mit zwölf geradezu in Schweizer Präzision detailliert formulierten Verbots-Punkten soll Verfassungsrang erlangen, was künftig nicht mehr sein darf: So sollen Mobilfunkstrahlen nicht mehr ins Gebäudeinnere gelangen dürfen, und im ÖV werden Sitzplätze gefordert, an denen die Verwendung elektronischer Geräte untersagt ist.

Statt den Wohlstand dank dem intelligenten Einsatz neuer Technologien zu mehren, gilt neuerdings die Prämisse des Strukturerhalts, oder in ihrer radikaleren Ausprägung: des Strukturrückbaus. Gleichzeitig ist eine Vereinfachung komplexer Probleme durch Zuspitzung auf simple Lösungen zu beobachten. Von Gewerkschaften wird das Narrativ der «sozialen Ungerechtigkeit» verbreitet, das Empörung durch Neid bedient. Bei dieser Geschichte gibt es nur einen Haken: Sie stimmt nicht mit den Fakten überein. Die Schweiz weist eine bemerkenswert stabile und ausgewogene Einkommensverteilung aus. Anderseits grassiert das Narrativ des «bösen Auslands», das innere Identität durch Abgrenzung gegen aussen schaffen soll, obwohl Schweizerinnen und Schweizer überdurchschnittlich von der globalen Handelsintegration profitieren. Beiden Narrativen ist gemeinsam, dass sie einen wettbewerbsgetriebenen Austausch mit anderen scheuen.

Doch Narrative wie das der Ungleichheit oder des schädlichen Wettbewerbs lenken den öffentlichen Diskurs von den unaufhaltsamen Veränderungen ab. Unser direktdemokratisches Augenmerk sollte aber mehr darauf ausgerichtet sein, langjährige Trends ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Art zu thematisieren. Verliert man diese aus dem Blickfeld, droht unserem Land tatsächlich die Situation mit der Analogie des Frosches im Kochtopf. Umfeldveränderungen nehmen unmerklich zu, man bewegt sich nicht und merkt erst zu spät, wenn es wirklich kritisch wird.

Was also, gilt es zu tun? In erster Linie sind die politisch Verantwortlichen gefordert, die aufgrund der weitgehenden geostrategischen und technologischen Transformationen mehr als früher einen strategischen Gestaltungswillen an den Tag legen müssen. Bis heute liest sich die Legislaturplanung des Bundes wie ein Sammelsurium verschiedenster Verwaltungsaktivitäten. Langfristige Herausforderungen werden nur am Rande thematisiert. Die heutige «Drei-Monats-Perspektive» der Politik von Abstimmungssonntag zu Abstimmungssonntag greift aber klar zu kurz. Der politische Diskurs und Aktionsradius sind zeitlich auszuweiten.

Handlungsnotwendigkeiten sollten mehrere Jahre im Voraus aufgezeigt werden, um genügend Druck für Anpassungen zu erzeugen. Das neugewählte  Parlament sollte die Gelegenheit nutzen, in der nun anstehenden Legislatur die langfristigen Herausforderungen konkret zu benennen, Lösungen aufzuzeigen und anschliessend mit dem Plazet des Souveräns umzusetzen.

Fitnesskur und Entschlackung

Der Handlungsbedarf ist gross: Aufgrund der globalen Verschiebungen mit der Abkehr vom Multilateralismus ergibt sich klar, dass der Bilateralismus zu stärken ist: Einerseits durch den Ausbau des Marktzugangs zur EU, anderseits durch die Vertiefung des Freihandelsnetzwerks zu Ländern mit grossen Absatzmärkten wie den USA und Indien. Gleichzeitig sind die immer konkreteren Pläne der OECD zur materiellen Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung zum Anlass zu nehmen, hierzulande eine Fitnesskur im öffentlichen Sektor durchzuführen. Mit der beherzten Entschlackung des Regulierungsdickichts und der steuerlichen Entlastung natürlicher Personen könnten die Wettbewerbskräfte gestärkt und die Standortattraktivität erhalten bleiben – längst überfällig ist die Einführung der Individualbesteuerung.

Der Veränderungsdruck infolge Digitalisierung verlangt vom neuen Parlament schliesslich eine umfassende Reform des Service public. Der «analoge» Versorgungsauftrag der Bundesbetriebe ist anzupassen und die Angebote sind technologieneutral auszugestalten. Zudem ist die aus dem Fabrikzeitalter stammende Arbeitsgesetzgebung zu flexibilisieren und ins digitale Zeitalter zu überführen. Der demografische Umbruch sollte in einer Abschaffung der «Altersguillotine 65» und einer dynamischen Definition der Beitragsjahre resultieren. Und wem das Klima wirklich am Herzen liegt, der setzt gerade nicht auf dirigistische und ineffiziente «Lösungen», sondern macht sich stark für eine Internalisierung der Kosten, so dass ein Wettbewerb um den besten Klimaschutz sich entfalten kann – idealerweise geschieht das global koordiniert, denn Treibhausgase kennen keine Grenzen. Nicht zielführend sind in diesem Kontext Verbote oder Förderungen spezifischer Technologien.

Dies alles sollte die nächsten vier Jahre konsequent angegangen werden, so dass wir uns nicht dereinst die Frage stellen müssen: Was wäre zu tun, damit die Schweiz wieder zur Weltspitze gehört?

Dieser Beitrag ist als Gastkommentar in den Zeitungen der «CH Media» erschienen.