In der politischen Debatte werden regelmässig Forderungen nach weniger und besserer Regulierung laut. Nicht zuletzt die angeblich blinde Übernahme von EU-Recht wird in diesem Zusammenhang immer wieder angeprangert. Gerade weil sich eine gewisse Tendenz zur Überregulierung in der EU nicht verneinen lässt, sollte es einen besonders stutzig machen, wenn in der Schweiz Regulierungen gefordert werden, die nicht einmal die EU für nötig hält.
Ein solcher Fall stellt die «Fair-Preis-Initiative» dar, die das heute geltende kartellrechtliche Missbrauchsverbot für marktbeherrschende Unternehmen auf «relativ marktmächtige» Unternehmen ausdehnen will. Gemäss dem Initiativtext würden Unternehmen künftig als relativ marktmächtig gelten, wenn andere Unternehmen von ihnen in einer Weise abhängig sind, dass keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten bestehen.
«Relative Marktmacht»
Was genau mit «ausreichend» und «zumutbar» gemeint ist, bleibt dabei weitgehend unklar. Die Initiative wird als Heilmittel gegen die Hochpreisinsel Schweiz angepriesen und verspricht in markigen Worten, die hiesigen Nachfrager vor Lieferverweigerungen und Preisdiskriminierung durch ausländische «Abzocker» zu schützen. Zusätzlich fordert die Initiative ein Verbot des sogenannten Geoblockings, also von geografischer Diskriminierung im Online-Handel.
Den allermeisten europäischen Ländern sowie der EU selbst ist der Begriff der relativen Marktmacht fremd. Dies aus gutem Grund: Das Wettbewerbsrecht soll einen wirksamen, funktionsfähigen Wettbewerb sicherstellen. International besteht ein breiter Konsens, dass ein Unternehmen den Wettbewerb nur dann auf volkswirtschaftlich schädliche Art und Weise beeinträchtigen kann, wenn es marktbeherrschend ist. Marktbeherrschung bedeutet dabei, dass sich ein Unternehmen aufgrund seiner Marktstellung den disziplinierenden Kräften des Wettbewerbs entziehen kann.
Relative Marktmacht gegenüber einzelnen Nachfragern oder Abnehmern reicht hingegen nicht aus, den Wettbewerb zu schädigen, und hat somit konzeptionell nichts im Wettbewerbsrecht verloren. Natürlich ist der Begriff der relativen Marktmacht aber keine Schweizer Erfindung. Er ist dem deutschen Kartellrecht entlehnt, das im europäischen Kontext eine Sonderstellung einnimmt: Es schützt nicht nur den Wettbewerb, sondern auch einzelne Marktteilnehmer. Es handelt sich letztlich um einen nationalen Sonderweg, der vor allem mit strukturpolitischen Zielen – etwa dem Schutz von KMU und des Mittelstands – begründet wird. Bezeichnenderweise wurde der entsprechende Artikel in den 1970er Jahren als Reaktion auf die Ölkrise zum Schutz der inländischen Marktstrukturen erlassen.
Mit der Übernahme des systemfremden Begriffs der relativen Marktmacht würde letztlich auch in der Schweiz ein unerprobter Sonderweg eingeschlagen, denn die Praxis der deutschen Gerichte könnte nicht – wie vielfach behauptet – einfach übernommen werden: Die Problematik einer «Hochpreisinsel» besteht in Deutschland nicht, und es liegen auch keine Urteile gegen ausländische Unternehmen vor. Wie die deutschen Gerichte in einer vergleichbaren Situation entscheiden würden, kann nur gemutmasst werden.
Kein Patentrezept
Zu bezweifeln ist zudem, ob eine solche Gesetzesnorm gegenüber im Ausland domizilierten Unternehmen überhaupt durchgesetzt werden könnte. Schweizer Exportunternehmen, die regelmässig auch internationale Preisdifferenzierung betreiben, wären hingegen durchaus betroffen. Gewarnt werden muss zudem davor, in der «Fair-Preis-Initiative» ein Patentrezept gegen die Hochpreisinsel zu sehen. Deren Ursprung liegt weitgehend in der Schweiz selbst. Die grössten Preisdifferenzen zum umliegenden Ausland finden sich nämlich im abgeschotteten Binnenmarkt, etwa im Gesundheitssektor, bei der Energie oder dem Wohnen.
Auch das «Nützt’s nüt, so schadet’s nüt»-Argument ist gefährlich: Das Konzept der relativen Marktmacht stellt einen massiven Eingriff in die Wirtschafts- und Entscheidungsfreiheit der Unternehmen dar. Letztlich wird das Stimmvolk über die «Fair-Preis-Initiative» befinden müssen. Ein guter Ratgeber wäre in diesem Fall aber wohl der französische Philosoph und Staatstheoretiker Montesquieu: «Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.»
Dieser Beitrag ist am 19. April 2018 in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen.