Die Darstellung, mit der wir das Jahr 2014 unserer Grafik-Kolumne abschliessen, zählt zu den Klassikern der Wirtschaftspolitik. Es ist die sogenannte Beveridge-Kurve, benannt nach dem britischen Ökonomen und Sozialpolitiker William Beveridge (1879 bis 1963), der unter anderem zwischen den beiden Weltkriegen als Direktor der London School of Economics amtete. Beveridge selbst verwendete die Kurve allerdings in seinen Arbeiten nicht. Die Bezeichnung geht einzig darauf zurück, dass er sich zeitlebens mit dem Arbeitsmarkt und der Arbeitslosigkeit beschäftigte. Da der relativ flexible, leistungsfähige Arbeitsmarkt der Schweiz mit anhaltend niedriger Arbeitslosigkeit von rund 3% und einer hohen Partizipationsrate von rund 80% nach allgemeiner Auffassung zu den Standortvorteilen des Landes gehört, eignet sich die Kurve sehr gut für einen etwas längerfristigen Rückblick.
Ein realistisches Ideal
Der – natürlich theoretische – Idealzustand liegt im Nullpunkt (der auf der Grafik weggelassen wurde). Dort herrscht keine Arbeitslosigkeit (horizontale Achse) und gibt es auch keine offenen Stellen zu besetzen (vertikale Achse). Die weiteren Punkte auf der Winkelhalbierenden, auf der die beiden Quoten jeweils identisch sind, sind auch nicht zu negativ zu bewerten. Sie zeigen, dass es etwas wie eine natürliche Sockelarbeitslosigkeit gibt, die angesichts der Suchprozesse und strukturellen Verschiebungen fast unvermeidlich ist.
Ein solches gewissermassen realistisches «Ideal» herrschte 1990, als die Zahl der offenen Stellen und die Zahl der Arbeitslosen bzw. die entsprechenden Quoten, der Anteil der Arbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung und der Anteil der offenen Stellen an der Erwerbsbevölkerung (auch Vakanzenquote genannt), praktisch gleichauf lagen, um die 20 000 bzw. um die 0,5%. Es war dies die Hochkonjunktur vor den schwierigen 1990er Jahren. Selbst diese Situation ist natürlich für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer nur begrenzt ideal. Die einen können ihre Nachfrage nach Arbeitskräften nicht immer optimal befriedigen, weil die Qualifikation der Arbeitslosen, selbst wenn die Zahl der Arbeitslosen gleich hoch ist wie jene der offenen Stellen, nicht automatisch dem entspricht, was sie benötigen. Und für die anderen gilt das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen: Nicht jede offene Stelle entspricht dem, was sie suchen.
Folgt man auf der Beveridge-Kurve den einzelnen Jahren, erkennt man danach im Zuge der Immobilienkrise eine massive Verschlechterung, bis es Mitte der 1990er Jahre praktisch keine offenen Stellen mehr gab, die Arbeitslosenquote aber zeitweise auf über 4% sprang. Der Wiederaufschwung gegen Ende des Jahrzehnts liess dann die Arbeitslosigkeit wieder sinken, aber nicht mehr unter 1,5%. Gleichzeitig bewegte sich die Vakanzenquote fortan mehr oder weniger zwischen 0,3% und 0,4%, nach anderen Datenquellen als der OECD sogar noch tiefer. Die Bewegung nach rechts ab dem Jahr 2001 reflektiert das Platzen der Dotcom-Blase, das jedoch auf dem Arbeitsmarkt erstaunlich glimpflich ablief. Noch bemerkenswerter sind der nur schwache Anstieg der Arbeitslosigkeit ab 2008, als die ganze Welt von einer Wirtschaftskrise erfasst wurde, und die rasche Korrektur bereits ab 2010. Seither windet sich die Spirale ziemlich eng um den mehr oder weniger selben Bereich.
Hohe Anpassungsfähigkeit
Die Grafik zeigt sehr schön die ungewöhnliche Anpassungsfähigkeit des schweizerischen Arbeitsmarktes. Obwohl mit den flankierenden Massnahmen in einer unheiligen Allianz von Gewerbe und Gewerkschaften die Funktionstüchtigkeit des Arbeitsmarktes eingeschränkt wurde und obwohl als Folge der Personenfreizügigkeit in den letzten Jahren eine extrem hohe Nettozuwanderung stattfand, hat sich die Beveridge-Kurve gegenüber den wachstumsschwachen 1990er Jahren wieder leicht nach links oben zurückbewegt. Das ist umso bemerkenswerter, als die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 1990 und 2013 von 3,8 Mio. auf 5,0 Mio. gestiegen ist. Normalerweise treibt ein Wachstum der Erwerbsbevölkerung nämlich immer zunächst die Arbeitslosigkeit in die Höhe, weil der kurzfristig stagnierenden Zahl offener Stellen plötzlich mehr Arbeitssuchende gegenüberstehen. In der Schweiz ist die Erwerbsbevölkerung seit 1995 unablässig gewachsen, so dass man erwarten würde, dass das Hinterherhinken der offenen Stellen permanent sichtbar würde – was es aber nicht tut.
Flexibilität nicht strangulieren
Die in der Tendenz leichte Rückbewegung nach links oben ist zwar kein Beweis, aber doch ein Indiz dafür, dass die Unternehmen dank der Personenfreizügigkeit die gewünschten Schlüsselqualifikationen leichter finden und damit auch anderen, weniger gesuchten Arbeitskräften komplementäre Arbeit anbieten konnten. Einzig im Rückgang der Zahl der offenen Stellen seit dem Jahr 2011 bei tendenziell – wenn auch minim – steigender Arbeitslosigkeit könnte eine leichte Effizienzverschlechterung gesehen werden. Würde sich die Kurve nach rechts fortsetzen, wäre das das vorläufige Ende der anhaltend niedrigen Arbeitslosigkeit. Will man das verhindern, muss man der Mobilität und Flexibilität des schweizerischen Arbeitsmarktes grosse Sorge tragen. Das heisst nicht zuletzt, dass man ihn keinesfalls mit weiteren flankierenden Massnahmen oder gar Kontingenten strangulieren darf.
Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 27.12.2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».