Niall Ferguson: Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen, Propyläen, 560 Seiten, 35.50 Fr.

Auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation halte, höhnte Mahatma Gandhi: «Das wäre eine gute Idee.» Und nicht nur der indische Asket wusste die Errungenschaften des Westens kaum zu schätzen, auch immer mehr Menschen im Westen zweifeln daran. «Die westliche Zivilisation hat anscheinend das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten verloren», stellt Niall Ferguson fest. Der Historiker-Star aus Glasgow, der in Harvard lehrt, beklagt den Mangel an Geschichtsbewusstsein. In seinem magistralen Opus «Der Westen und der Rest der Welt» – im Original schlicht und einfach: «Civilization» – zeigt er einmal mehr, was die Geschichtsschreibung für die Gegenwart und die Zukunft leisten kann.

«Wie kam es dazu, dass einige kleine Staaten am Westrand der eurasischen Landmasse um das Jahr 1500 begannen, ihren Einfluss auf die übrige Welt rasch zu vergrössern?», fragt Ferguson. Warum überflügelten diese Staaten die höher entwickelten und viel bevölkerungsreicheren Gesellschaften Ostasiens? Und warum feierte ihre Zivilisation einen solchen Siegeszug, dass vor dem Ersten Weltkrieg elf westliche Imperien drei Fünftel der Weltbevölkerung beherrschten? Der Historiker führt den Erfolg des Westens auf sechs Faktoren zurück, die er mit einem Begriff aus dem IT-Business «Killerapplikationen» nennt: Angebote, die sich durchsetzen, weil sie die Massen ansprechen. Die Bedeutung dieser sechs «Killerapplikationen» erklärt der Historiker anhand von klug gewählten Kontrastbeispielen, gespickt mit Anekdoten und Aperçus. Wie alle wahrlich grossen Geschichtsschreiber bietet er so nicht nur Einsichten, sondern auch Lesevergnügen.

  • Als ersten und wichtigsten Vorzug des Westens, der zu allen anderen Errungenschaften führte, sieht Ferguson den Wettbewerb. China, das hoch entwickelte «Reich der Mitte» ruhte in sich selbst; es stellte die erfolgreichen Expeditionen auf den Ozeanen im 15. Jahrhundert ein, weil die Beamten den Seefahrern misstrauten. Dagegen rivalisierten im mittelalterlichen Europa Hunderte von Staaten. Sie trieben deshalb die Militärtechnologie voran, suchten nach Einnahmen zur Finanzierung ihrer Feldzüge und wuchsen nie zu einer Grösse heran, dank der sie die Seefahrt verbieten konnten.
  • Zweitens pflegte der Westen die Wissenschaft. «Jene, die den ‚Eurozentrismus’ verurteilen, haben ein Problem», weiss Ferguson: Die wissenschaftliche Revolution war «ein durch und durch eurozentrisches Phänomen». Der Historiker erklärt dies mit der Trennung von Kirche und Staat, dank der sich die Forscher Freiräume erkämpfen konnten. Im zuvor führenden Osmanischen Reich gab es dagegen in dieser Zeit keinerlei wissenschaftliche Fortschritte, weil der Glauben alles Forschen erstickte.
  • Über die Entwicklung entschied drittens die Bedeutung des Eigentums. Ferguson erzählt dazu die Geschichte zweier Schiffe, «die symbolisch für die Geschichte der beiden amerikanischen Kontinente stehen»: Das eine landete 1532 an der Nordküste von Ecuador, mit einer kleinen Streitmacht, die für den spanischen König das Reich der Inka erobern wollte. Das andere ging 1670 vor der Küste des heutigen South Carolina vor Anker, mit Schuldknechten aus England, die in Amerika ein besseres Leben suchten. Die Kolonie im Norden entwickelte sich unter schwierigeren Bedingungen viel günstiger, weil unter den Siedlern die Lehre von John Locke galt, dass der Einzelne frei über sein Eigentum verfügen konnte.
  • Viertens brachte die Medizin der westlichen «Ärztearmee», wie sie Gandhi verspottete, den Menschen rund um die Welt eine höhere Lebenserwartung und half ihnen im Kampf gegen die Tropenkrankheiten. Damit rechtfertigt Ferguson auch den Kolonialismus, vor allem der Franzosen – ohne Greuel zu entschuldigen.
  • Als fünfte «Killerapplikation» sieht der Historiker den Konsum: Dieser führte zur Industrialisierung, als die Engländer im 17. Jahrhundert aufgrund ihrer höheren Einkommen sich den Kauf von Kleidern leisteten und der Einsatz von Maschinen anstelle von Handarbeit sich lohnte. Und der Massenkonsum mit seinen Verlockungen von den Jeans bis zum Rock’n’Roll entschied auch den Kalten Krieg, also die Konfrontation von Kapitalismus und Kommunismus.
  • Schliesslich beruhte der Aufstieg des Westens sechstens auf seiner Arbeitsethik, die gemäss Max Webers umstrittener These auf dem Protestantismus gründet. Ferguson weist allerdings darauf hin, dass das alte Europa heute am wenigsten fleissig und am wenigsten gläubig ist – und dass in China nicht nur die Arbeitsethik, sondern auch das Christentum blüht.

Der Westen müsse sich auf seine Errungenschaften besinnen und sie bewahren, meint der Historiker. Er widmet sein Werk denn auch «einer Frau, die besser als jede andere versteht, was die westliche Zivilisation ausmacht und was sie der Welt auch heute noch zu bieten hat»: der Politikerin Ayaan Hirsi Ali aus Somalia, die er im September geheiratet hat. Und er mahnt: «Vielleicht ist die schlimmste Bedrohung des Westens ja gar nicht der radikale Islamismus oder eine andere von aussen kommende Kraft, sondern unser eigenes mangelndes Verständnis für und fehlendes Vertrauen in unser eigenes kulturelles Erbe.»

Dieser Artikel erschien in der «NZZ am Sonntag» vom 30. Oktober 2011.
Mit freundlicher Genehmigung der «NZZ am Sonntag».

Im Dezember wird Avenir Suisse ein Buch publizieren mit dem Titel: «Vom Wert der Werte. Über die moralischen Grundlagen der westlichen Zivilisation.»