Bilder von feiernden und von Termin zu Termin hetzenden Klimaseniorinnen und ihrer Entourage; politische Parteien, die mal provozierend, mal rechthaberisch vor die Medien treten und ihre absehbaren Stellungnahmen verkünden. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) lässt kaum jemanden kalt. Zeit für eine Einordnung: Drei problematische Aspekte – und die Möglichkeit einer konstruktiven Synthese.

  1. Top-down entspricht nicht dem Schweizer Politikverständnis

Sicher ist es gegenüber den Aktionen von «Klimaklebern» ein Fortschritt, dass der Kampf um die Klimapolitik in den Gerichtssälen statt auf der Strasse ausgetragen wird. Dennoch entspricht dieser Weg nicht dem schweizerischen Verständnis, was manche Reaktion erklären mag. Statt dass in einem bottom-up getragenen Prozess die Klimapolitik demokratisch geformt wird, wird die Schweiz nun top-down juristisch gerügt.

Dieses Vorgehen dürfte kaum nachhaltig sein. Wie gerade die beiden Referenden um die Covid-19-Massnahmen gezeigt haben: Basisdemokratische Entscheide geniessen eine nachhaltigere Legitimation als juristische Prozesse. Der Gang zum EGMR der Klimaseniorinnen wurde unter anderem auch von Greenpeace unterstützt, doch das nun errungene Urteil wird innenpolitisch nicht so bald einen «grünen Frieden» bringen.

Der Klimaprotest hat sich von den Strassen in den Gerichtssaal verlagert. (Adobe Stock)

  1. Der Fokus auf die Schweiz verkennt die Fakten

Das Urteil bestätigt primär all jene, die überzeugt sind, dass die Schweiz in Sachen Klimaschutz viel zu wenig unternehme. Dabei liegt die Reduktion, gerade im Gewerbe, der Industrie sowie bei den Gebäuden, teilweise über den Zielwerten des politisch geforderten Absenkpfads – und auch im Gegensatz zum Ausland steht das Land so schlecht nicht da. Klar, es gibt auch hierzulande Verbesserungspotenzial: Sorgenkinder bleiben die De-Fossilisierung des Verkehrs und der Landwirtschaft.

Zudem ist der Fokus auf ein einzelnes Land wie die Schweiz wenig zielführend. Selbst ein sofortiger und kompletter Verzicht auf jeglichen klimaschädlichen Ausstoss hierzulande wäre weltweit klimatologisch nicht spürbar – auch die individuellen Rechte der Klimaseniorinnen wären damit nicht geschützt. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen eines solchen Vorgehens im Inland wären hingegen schwerwiegend.

Es ist klar: Im Vordergrund muss die internationale Zusammenarbeit im Sinne des Übereinkommens von Paris stehen. Gerade hier ist die Schweiz eine Vorreiterin, indem sie bereits mehrere Klimakompensationsabkommen mit anderen Ländern abgeschlossen hat, die lokale Projekte zur Emissionsminderung finanzieren.

  1. Der Diskussionsbedarf über die Rolle des EGMR hat zugenommen

Nach dem Urteil stellen sich diverse Fragen zur Rolle des EGMR. Keinesfalls soll die Legitimation einer juristischen Instanz, die die grundlegenden Menschrechte in Europa schützt und für die Mitgliedsstaaten bindende Urteile erlässt, angezweifelt werden. Aus Sicht juristischer Laien scheint der EGMR aber seine Zuständigkeit sehr umfassend zu interpretieren. Die ehemals eher eng definierte Rolle – die in der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannten Rechte zu schützen – wird immer extensiver ausgelegt.

Es ist damit ein beinahe idealtypisches Verhalten einer Bürokratie, das Niskanen (1971) schon vor über fünfzig Jahren wissenschaftlich beschrieben hat. Als Beleg mag dafür dienen, dass der EGMR erst seit 1998 ständig tagt, nachdem dies 39 Jahre lang nicht als notwendig erachtet wurde. Es stellt sich die Frage, mit was sich der EGMR als nächstes beschäftigen wird, das von einem relevanten Teil der Bevölkerung nicht direkt mit einer Menschenrechtsverletzung in Verbindung gebracht wird – überspitzt gefragt: Wird demnächst die 4-Tageswoche mit Mindestlohn für ein menschenwürdiges Leben richterlich verordnet werden?

Sicher ist, dass der Diskussionsbedarf über die Rolle des EGMR mit dem jüngsten Urteil zugenommen hat. Und es ist zu befürchten, dass damit dem wichtigen Schutz der Menschenrechte ein Bärendienst erwiesen wurde.

Doch noch eine positive Signalwirkung?

Statt nun überhastet auf das Urteil aus Strassburg zu reagieren, sollte die Schweiz ruhig Blut bewahren. Die Gefahr ist gross, dass nun verstärkt gefordert wird, den bereits eingeschlagenen Weg über Subventionstöpfe – alimentiert aus den allgemeinen Steuermitteln – beschleunigt fortzusetzen. Dies wäre weder verursachergerecht noch technologieneutral, geschweige denn effektiv und effizient.

Die viel bessere Alternative wäre die demokratisch legitimierte Einführung einer alle wirtschaftlichen Tätigkeiten umfassenden und vollständig rückzuverteilenden Treibhausgassteuer. Das mag etwas weit hergeholt und nach illusorischem Wunschdenken klingen. Doch eine solcherlei gestaltete Klimapolitik könnte nach dem Strassburger Urteil noch mehr als vorher international als Vorbild dienen. Die Wirkung der helvetischen Massnahmen würden dadurch multipliziert. Wäre dies das Ergebnis des Urteils gegen die Schweiz, hätte der Entscheid aus Strassburg doch noch eine positive Signalwirkung.

Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in unserer Studie «Wirkungsvolle Klimapolitik».