Kommen die Reichsten in der Schweiz zu gut weg? Das ist der feste Glaube der Autoren von «Richtig Steuern», einer vor kurzem veröffentlichten Publikation des gewerkschaftsnahen Think-Tanks Denknetz. Diese verlangen nichts weniger als einen Kurswechsel in der Steuerpolitik des Landes. Mit der Erhöhung bestehender Steuern – und der Schaffung neuer – sollen zusätzliche 25 Mrd. Fr. von den hohen Einkommen zu den tieferen umverteilt werden.

Das Schweizer Steuersystem sei zu wenig progressiv, so die Meinung von Denknetz. Als Evidenz wird eine Statistik der OECD zitiert, die zeigt, dass die 10% einkommensstärksten Schweizer Haushalte zwar 23,5% aller Einkommen erzielen, jedoch nur 21% der Steuereinnahmen bezahlen.

Diese Daten sagen jedoch nur wenig über das tatsächliche Ausmass der Umverteilung der Einkommen in der Schweiz aus. In dieser Rechnung sind nur die Steuern enthalten, die direkt vom Haushalt bezahlt werden, wie die Einkommenssteuer und die Sozialversicherungsbeiträge. Doch alle Steuern, auch jene der so genannten «juristischen Personen», werden letztendlich von Personen bezahlt. So belastet die Unternehmensgewinnsteuer vorwiegend die Aktionäre und Firmeninhaber, darunter viele einkommensstarke Haushalte.

Um die Umverteilungswirkung des Staates zu beurteilen, ist es zudem zwingend, auch die Ausgabenseite zu berücksichtigen, d.h. alle Leistungen, die die Haushalte vom Staat und den Sozialversicherungen beziehen – AHV, IV, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Ausgaben des Gesundheitssektors usw. Diese Leistungen werden überproportional stark von den Erwerbslosen und von den tieferen Einkommensklassen beansprucht.

Wie die Gesamtrechnung in der Schweiz aussieht hat Monika Engler der Universität St. Gallen in ihrer Dissertation gezeigt. Dafür wurden die Schweizer Haushalte in zehn gleich grosse Einkommensklassen aufgeteilt. Die zehnte Klasse enthält die 10% Haushalte mit den höchsten Einkommen vor Transfers, d.h. ohne Abgaben an den und Leistungen vom Staat. Diese erzielen ein Durchschnittseinkommen vor Transfers von 182’000 Fr., das nach der Umverteilung des Staates auf nur 101’800 Fr. schrumpft.

Die Grafik zeigt eindeutig, dass der Wohlfahrtsstaat Schweiz Umverteilung im grossen Stil betreibt. Engler rechnet, dass zwei Drittel der Einkommensunterschiede zwischen Haushalten durch die Umverteilung von Staat und Sozialversicherungen eliminiert werden. Ihre Analyse zeigt auch, dass heute deutlich mehr als vor 20 Jahren umverteilt wird. Demnach ist die isolierte Betrachtung der (mangelnden) Progressivität des Steuersystems, wie sie Denknetz macht, ein Denkfehler.

Am Dienstag, 15. November 2011, findet eine Debatte zwischen Vertertern von Denknetz und Avenir Suisse zu aktuellen Themen der Steuerpolitik statt. Die Veranstaltung «Steuern mit Steuern – aber wie?» findet zwischen 19-21 Uhr im Restaurant Falcone, Birmensdorferstrasse 150, in Zürich-Wiedikon statt.