An einem «Abendlichen Gespräch» bei Avenir Suisse zog der Historiker Harold James Parallelen zwischen 1913 und 2013: beide Epochen waren geprägt von einer Renationalisierung nach Jahren der zunehmenden globalen Vernetzung.
Würden Menschen heute aus einem 100-jährigen Dornröschenschlaf erwachen, sie würden sich vermutlich relativ schnell orientieren können. Sie fänden sich, ausgerüstet zwar mit vielen neuen technologischen Hilfsmitteln, in einer ähnlich dynamischen, sehr vernetzten und dadurch auch sehr verwundbaren Welt wieder wie 1913: Ein «Abendliches Gespräch» bei Avenir Suisse mit dem renommierten Historiker Harold James, der auch Mitglied der Avenir-Suisse-Programmkommission ist, widmete sich angesichts vieler Parallelen zwischen 2013 und 1913 der bangen Frage: Könnte sich die Geschichte wiederholen? Und: Kann man aus der Geschichte lernen?
Anlass dazu bot eine Aussage von Jean-Claude Juncker: Der dienstälteste Regierungschef der Europäischen Union und langjährige Chef der Eurogruppe hatte an einem Neujahrsanlass erklärt: «Mich frappiert die Erkenntnis, wie sehr die europäischen Verhältnisse im Jahr 2013 denen von vor 100 Jahren ähneln.»
Zu vernetzt für Krieg
Sommer 1913 im Hotel Waldhaus in Sils-Maria: der damalige deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg logiert mit seinem Kabinett im Engadin. Wer hätte schon, angesichts der sorglosen Ferien der höchsten preussischen Beamten im Luxushotel, minutiös vorbereitete Kriegspläne erahnt? Als zu vernetzt und zu globalisiert glaubte man Europa Anfang des 20. Jahrhunderts, als dass es je wieder zum Krieg kommen könnte. Doch die Auswirkungen einer schweren Finanzkrise 1907, auch sie hatte ihren Ursprung in den USA, belastete ein halbes Jahrzehnt später noch immer die Märkte.
Phase der Renationalisierung
1913 sei geprägt gewesen von einer Renationalisierung. Wirtschaft und Finanzmärkte waren zwar integriert, aber die europäischen Grossmächte entfremdeten sich zunehmend. Auch hier ortet Harold James eine weitere Parallele zum schwindenden Gemeinschaftsgefühl zwischen den wirtschaftlich prosperierenden Ländern Nordeuropas und dem in der Finanzkrise steckenden Südeuropa. Aber auch das frühe Scheitern des G20-Gipfels und die Uneinigkeit im Syrien-Konflikt lasse erkennen, dass Eigeninteressen stärker gewichtet würden als Kooperation. Protektionismus und Machtpolitik nähmen allgemein zu, Währungspolitik diente zunehmend der Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit und nicht der Stabilität des globalen Finanzsystems.
Missbrauchte Wirtschaftsinformationen
Anfang des 20. Jahrhunderts: Alle Finanzströme laufen durch London, was von Deutschland und den USA zunehmend missbilligt wird. Warum sollte Grossbritannien über derart viel Macht verfügen? Als alleiniges Finanzzentrum hatte die britische Regierung exklusive Kenntnisse über wertvolle Wirtschaftsinformationen: über Versicherungsverträge, Rohstoffhändel, Kriegsmateriallieferungen und die Finanzierung von Infrastrukturprojekten. In den Augen der anderen Hegemonialmächte missbrauchte damals Grossbritannien geschäftliche Beziehungen für sicherheitspolitische Zwecke – auch hier sieht der Historiker Analogien zur Überwachungs- und Spionageaffäre 2013 um den US-amerikanischen Whistleblower Edward Snowden.
Konfliktherde eindämmen
Für die Avenir-Suisse-Gastgeber Gerhard Schwarz und Andreas Müller stand die Frage im Zentrum: Was können wir tun, damit sich die Geschichte nicht wiederholt? Das Ziel müsse, so Harold James, sein, Konflikt- und Krisenherde frühzeitig zu isolieren und einzudämmen. Er befürwortet eine Reform des IMF, die den Schwellenländern mehr Gewicht und dem Fonds mehr Mittel gäbe, um zu verhindern, dass Finanzkrisen globale Ausmasse annähmen. Analog zu 1914, als sich das Attentat in Sarajewo unerwartet und innerhalb weniger Wochen zum Flächenbrand ausweitete, wisse man auch heute wenig darüber, welcher lokale Konflikt das Potenzial zum Flächenbrand habe.
Dass im Übrigen auch Angela Merkel ihre Ferien im Engadin verbringt und sich die wichtigsten Staatsoberhäupter regelmässig in einem zum Engadin parallel gelegenen Tal zum jährlichen Stelldichein einfinden, sei hier nur am Rande erwähnt und per se noch kein Grund zur Sorge. Aber auch keiner zur Sorglosigkeit.