Die Antwort muss differenziert formuliert werden. Die absolute Zunahme aller Rentner ist für Leistungserbringer (Vorsorgewerke, Spitäler, Hilfsorganisationen) relevant, weil sie mit einem Ausbau von Personal und Infrastrukturen verbunden ist. Mit einer wachsenden Bevölkerung und der Pensionierung geburtenstarker Babyboomer-Jahrgänge wird die absolute Zahl von Neurentnern zunehmen, und damit – bei gleichbleibender Armutsquote – die Zahl von armen Rentnern.
Ob die Schweiz vermehrt mit Armutsproblemen konfrontiert ist, kann jedoch durch die alleinige Betrachtung der Anzahl armer Neurentner nicht bestimmt werden. Niemand würde behaupten, den Senioren gehe es immer besser, weil es jedes Jahr Tausende zusätzliche reiche Rentner gibt. Dafür muss man die Entwicklung relativer Grössen betrachten.
Dabei spielt der gewählte Armutsindikator eine erhebliche Rolle. Berücksichtigt man die Quote der AHV-Bezüger, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, so ist diese im letzten Jahrzehnt stabil geblieben. Sie betrug 12,1% im Jahr 2006, sank 2008 auf 11,6% und nahm seitdem auf 12,5% wieder zu. Allerdings ist die EL-Quote ein schlechter Indikator für Armut im hohen Alter, weil der EL-Bedarf stark mit dem Eintritt ins Pflegeheim zusammenhängt. «Reiche» und «Arme» wohnen zwar dann in einem identischen Pflegeheimzimmer, nur zahlen es die einen selber, die anderen mit Ergänzungsleistungen. Ihre Lebenssituation ist jedoch vergleichbar.
Ein weiterer Indikator ist die Armutsgefährdungsquote: der Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen unterhalb 60% des medianen Einkommens. Diese Quote ist für Personen ab 65 Jahren von 23% 2007 auf 20% 2014 gesunken. Die Situation der Rentner unter sich hat sich also verbessert. Ihre Quote lag 2014 allerdings deutlich über dem Wert der Gesamtbevölkerung von 13,5%.
Die Armutsgefährdungsquote berücksichtigt allerdings nur die Einkommens- und nicht die Vermögensituation. Gerade bei Senioren ist dies problematisch, weil sich etwa jeder zweite Pensionierte das ganze BVG-Vermögen oder Teile davon als Kapitalleistung auszahlen lässt. Diese Verzerrung kann mit dem Konzept der «materiellen Entbehrung» umgangen werden: Dabei wird der Nichtbesitz von Gebrauchsgütern (z.B. Auto, Fernseher), bzw. das Fehlen elementarer Lebensgrundlagen (z.B. ausreichende Heizung der Wohnung, eine fleischhaltige Mahlzeit jeden zweiten Tag) aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen bestimmt. Die Quote der materiellen Entbehrung für Personen ab 65 Jahren ist seit 2007 signifikant zurückgegangen und hat sich seitdem mehr als halbiert. Anders als bei der Armutsgefährdungsquote lag 2014 die Quote der materiellen Entbehrungen für Senioren auch deutlich tiefer als für die Gesamtbevölkerung (1,6% vs. 4,6%).
Armut hat viele Facetten, die finanzielle Situation ist nur eine davon. Die absolute Zahl armer Rentner wird in Zukunft steigen, und unsere Gesellschaft muss dafür Ressourcen zur Verfügung stellen. Jeder arme Rentner ist ein Armer zu viel. Trotzdem darf die Schweiz auf die Armutssituation im Alter stolz sein. Letztere hat sich je nach Indikator stabil, ja sogar zum Guten entwickelt, was für die Organisation unseres Arbeitsmarkts und unserer Altersvorsorge spricht.
Dieser Text ist in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift «Schweizer Versicherung» erschienen.