Die Organisation der Alterspflege ist Sache der Kantone. Dieser föderalistische Ansatz ermöglicht die Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten. In dünnbesiedelten Gebirgskantonen mit einer (noch) eher jungen Bevölkerung präsentiert sich die Situation anders als in engräumigen Stadtkantonen mit einem höheren Anteil von hochbetagten Pflegebedürftigen. Avenir Suisse hat in einer aktuellen Studie («Neue Massstäbe für die Alterspflege») die Organisation und die Kosten im Spitex- und im Pflegeheimbereich unter den Kantonen verglichen und Best Practices, aber auch Optimierungspotenzial identifiziert.

Extreme Kostenabweichungen

Dabei treten eklatante Unterschiede in Bezug auf die jährlichen Pflegekosten pro 65-Jährigen und Älteren zutage (vgl. Abbildung). Die günstigsten Kantone können die Alterspflege bis 45% billiger erbringen als die teuersten. Diese Unterschiede haben drei Hauptursachen: Erstens variieren die Lohn- und Sachkosten pro Vollzeitstellen stark, selbst unter vergleichbaren Kantonen. So liegen die Lohnkosten in Pflegeheimen des Kantons Genf 40% über dem Schweizer Durchschnitt, in den Kantonen Zürich oder Basel-Stadt jedoch «nur» 8% bzw. 4% darüber (vgl.Tabelle am Schluss des Textes). Grosse Unterschiede lassen sich auch bei den Sachkosten ausmachen: Während sie im Schweizer Durchschnitt bei 25’000 Fr. pro Bett und Jahr liegen, sind sie im Kanton Basel-Stadt mit 33’000 Fr. am höchsten und im Kanton Appenzell Innerrhoden mit 11’000 Fr. am tiefsten. Zweitens ist die Effizienz des Personaleinsatzes unterschiedlich. Im Kanton Wallis benötigt man im Pflegeheimbereich ca. 40% weniger Personal pro erbrachte Pflegestunde als im Kanton Schaffhausen, und zwar nach Berücksichtigung des unterschiedlichen durchschnittlichen Pflegebedarfs der Patienten. Und drittens variiert der Anteil der Bevölkerung, der professionelle Pflegeleistungen bezieht, um mehr als den Faktor zwei. Dabei spielen einerseits kulturelle und sozio-demografische Faktoren wie die Altersstruktur der Bevölkerung eine Rolle, anderseits gibt es auch Hinweise auf eine sogenannte angebotsindizierte Nachfrage. In Kantonen mit überdurchschnittlich viel Pflegepersonal ist die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen überdurchschnittlich hoch.

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1,9 Milliarden Einsparpotenzial

Gelänge es, sich im Spitex- wie im Pflegeheimbereich von den besten Kantonen inspirieren zu lassen, wäre das Optimierungspotenzial substanziell. In Franken ausgedrückt: Es liessen sich jährlich 1,9 Mrd. Fr. einsparen, wenn die gesamte Organisation der Alterspflege in allen Kantonen mindestens so effizient wäre wie der Schweizer Durchschnitt. Dies entspricht 17% der heutigen Ausgaben von 11 Mrd. Fr. für die Alterspflege. Werden diese Einsparungen nicht realisiert, verdrängen die Pflegeausgaben Investitionen der Kantone in Bildung oder Infrastrukturen.

Die Optimierung auf dem Niveau des Schweizer Durchschnitts würde auch eine Reduktion von 12’00 bis 14’000 Stellen bedeuten. Niemand muss jedoch um seinen Job bangen: Gemäss Bundesrat werden bis im Jahr 2020 aufgrund der Alterung der Gesellschaft zusätzliche 17’000 Stellen im Gesundheitssektor nötig. Dazu kommen 60’000 Stellen, um Pensionierungen von Pflegefachpersonen zu kompensieren. Dank der Realisierung des Sparpotenzials könnte der Fachkräftemangel entschärft werden. Die Ausbildung Tausender von Pflegefachpersonen an Schweizer Hochschulen oder ihre Rekrutierung im Ausland wären hinfällig.

Bessere Qualitätsdaten nötig

Die Qualität der Pflege würde mit diesen Massnahmen nicht beeinträchtigt. Unser Benchmark ist der Schweizer Durchschnitt – und im Durchschnitt ist die Pflege in der Schweiz gut. In einer Umfrage der Universität Basel bei 160 zufällig gewählten Pflegeheimen in allen Landesregionen beurteilen 93% der 5000 befragten Pflegepersonen  die Pflegequalität in ihrer Institution als gut oder sogar sehr gut. Im Vergleich dazu trifft dies nur bei 80% des Pflegepersonals in Spitälern zu.

Eine Einschätzung der Qualität durch das Pflegepersonal ist allerdings nur die zweitbeste Messung. Besser wäre eine Bewertung der Qualität am Patienten. Doch die wenigsten Kantone ermitteln diese Information flächendeckend und keiner veröffentlicht die Ergebnisse. Dies ist umso mehr verwunderlich, als viele Kantone und Gemeinde ihre Vorgaben in Bezug auf Personaldotation, Personalbildungsniveau und Zimmerausstattung immer mit dem Argument der Qualität begründen. Doch allein die Vielfalt der kantonalen Vorgaben zeigt, dass solche „Input“-Vorgaben für die Qualitätssicherung – also der „Output“ am Patienten –kaum geeignet sind. Oft sind sie sogar überflüssig und kontraproduktiv. Im Kampf um gute Fachkräfte spielt die Flexibilität bei der Personalsuche eine wichtige Rolle. Einige Kantone machen keine Vorgaben zum Ausbildungsniveau des Pflegepersonals. Dennoch liegt dort der effektive Anteil von hochqualifizierten Mitarbeitern im Schweizer Mittel und höher. In den Kantonen mit Vorgaben hingegen wird die Bürokratie erhöht und die Rekrutierung erschwert, ohne nennenswerten Einfluss auf das Bildungsniveau des Personals.

Eine ganzheitliche Sicht

Wie lässt sich das Sparpotenzial konkret realisieren? Im Schweizer Durchschnitt benötigten 2014 30% der Heimpensionäre weniger als 60 Minuten Pflege pro Tag. Die Kantone Zürich (39%), Thurgau (37%) und Aargau (35%) verzeichnen überdurchschnittliche Werte von Patienten, für die eine ambulante Behandlung denkbar wäre. Umgekehrt ist Spitex nicht immer die günstigste Lösung. Je nach Situation werden ab 60 Minuten Tagespflege Patienten in einem Heim kostengünstiger betreut als zu Hause, weil das Fachpersonal besser nach seinen Kompetenzen eingesetzt wird und unproduktive Reisezeiten entfallen.

Viele Senioren gehen also zu früh in ein Pflegeheim, weil sie oft zu wenig über Angebote wie Spitex, Mahlzeitenservices, Haushalthilfen oder Fahrdienste informiert sind, die es ihnen ermöglichen würden, noch zu Hause zu bleiben. Im Kanton Schwyz beispielsweise haben 70 Prozent der Heimbewohner in einer tiefen Pflegestufe keinen Kontakt mit Spitex-Organisationen gehabt. Manche Kantone setzen deshalb  auf die Sensibilisierung ihrer alten Einwohner. So findet in der Waadt oder in Basel-Stadt kein Heimeintritt ohne vorangehendes Orientierungsgespräch statt.

Bessere Informationen über die Pflegeangebote – kombiniert mit einem Ausbau ambulanter Angebote – würden helfen, leichtpflegebedürftige Personen zu Hause, in betreuten Wohnungen oder in Tagestrukturen zu pflegen, die Schwerpflegebedürftigen hingegen in Heimen. Es braucht also eine Strategie des «ambulant mit stationär» statt «ambulant vor stationär».

Transparentere Finanzierung

Die Realisierung des Sparpotenzials und die Umsetzung der Strategie «ambulant mit stationär» rufen nach neuen, flexiblen Finanzierungsregeln. Die Finanzierungsbeiträge der öffentlichen Hand für Spitex-Organisationen oder für Pflegeheime sollen sich allein an den erbrachten Leistungen orientieren und sich nicht nach der Kostenstruktur der Leistungserbringer richten. Kostenbasierte Regelungen eliminieren Sparanreize, weil eine höhere Effizienz zu einer Reduktion der Staatsbeiträge führt.

Im ambulanten Bereich (Spitex) sollte die Versorgungspflicht – die Pflicht, jeden Pflegebedürftigen unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen zu behandeln – separat und transparent abgegolten werden. Am besten werden dafür Leistungsaufträge ausgeschrieben, wie das im Kanton Solothurn vereinzelt bereits der Fall ist.

Bei allen Optimierungsmöglichkeiten wird die Finanzierung der Alterspflege eine Herausforderung bleiben. Als langfristige Lösung schlägt Avenir Suisse ein obligatorisches individuelles Pflegekapital für die Finanzierung der Alterspflege vor. Die angesparten Mittel wären für Pflege oder Betreuung – zu Hause oder im Heim – einsetzbar. Nicht verwendete Ersparnisse würden im Todesfall vererbt. Das honoriert die Unterstützung der Angehörigen, motiviert zum schonenden Umgang mit Ressourcen und stärkt die Eigenverantwortung. Das Modell sieht auch solidarische Elemente vor: Kann eine Person die Prämie nicht zahlen, soll der Staat, analog zur heutigen Regelung für Krankenkassenprämien, den Bürger entlasten. Damit bleibt ein soziales Auffangnetz bestehen. Der Staat kommt jedoch nur subsidiär statt mit der Giesskanne zum Zug.

Diese Beispiele zeigen: Die Optimierung der gesamten Alterspflegekette entlang den wechselnden Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen ist nicht nur eine Kür. Im Hinblick auf die personellen und finanziellen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft ist sie eine Pflicht.

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Dieser Beitrag ist in der Zeitschrift «Vorsorge-Guide» Ausgabe 2016/17 erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.