Die Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur soll in der Bündner Kantonshauptstadt einen neuen Campus erhalten. Daniel Müller-Jentsch, Autor der Studie «Strukturwandel im Schweizer Berggebiet», stellt eine neue Standort-Variante in der Altstadt von Chur zur Diskussion.

«Bündner Tagblatt»: In Ihrer Studie über den Strukturwandel im Berggebiet haben Sie sich intensiv mit einem neuen Campus für die HTW Chur auseinandergesetzt. Welche Bedeutung hat die Hochschule – vorerst unabhängig vom Standort – für Graubünden?

Daniel Müller-Jentsch: Die HTW Chur ist eine Schlüsselinstitution für den Standort Graubünden. Sie bildet Fachkräfte aus, dient Unternehmen als Entwicklungspartner und wirkt der Abwanderung junger Menschen entgegen. Eine attraktive HTW sollte auch Studenten aus anderen Landesteilen anziehen und dadurch zur demografischen Verjüngung eines alternden Kantons beitragen. Bislang gelingt es der HTW nur bedingt, diese Funktionen zu erfüllen. Erstens fehlt es ihr an kritischer Grösse. Zweitens mangelt es ihr noch an einem starken Profil innerhalb der Schweizer Hochschullandschaft, wenngleich diesbezüglich Fortschritte erzielt wurden. Drittens gerät sie ins Hintertreffen gegenüber Fachhochschulen mit ambitionierten Entwicklungsprogrammen. So investieren etwa der Kanton Wallis und die EPFL derzeit 350 Millionen Franken in einen Hochschulcampus in Sitten.

Wie wichtig ist für die künftige Profilierung und Entwicklung die Akkreditierung und damit die Selbstständigkeit der HTW Chur?

Durch die Selbstständigkeit gewinnt man Gestaltungsspielräume, aber die entscheidende Frage ist, wie diese genutzt werden. Bevor man die Strategie der HTW zur Profilbildung umsetzt, wäre es sinnvoll, diese durch ein unabhängiges Expertengremium evaluieren zu lassen. Das ist im internationalen Wissenschaftsbetrieb eine gängige und bewährte Praxis. Schliesslich geht es hier um wichtige strategische Weichenstellungen nicht nur für die HTW, sondern für die ganze Region. Erst wenn man eine robuste Strategie hat, wie die HTW in zwei Jahrzehnten inhaltlich aufgestellt sein soll, kann man einen geeigneten Campus dafür entwerfen.

Die historische Altstadt von Chur, möglicher Standort eines neuen Hochschul-Campus. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Welche Bedeutung hat bei diesem Prozess die Infrastruktur und damit die Realisierung eines zentralen Hochschulcampus?

Ein zentraler Campus könnte die über mehrere Standorte verteilte Hochschule zusammenführen, den Austausch zwischen den Fakultäten fördern und die Identität der HTW stärken. Auf einem Campus liessen sich auch zusätzliche Funktionen integrieren, wie etwa ein Gründerzentrum. Bei der Wahl eines geeigneten Standorts geht es aber nicht nur um die Frage: Wo gibt es ein freies Grundstück mit der passenden Grösse? Gerade eine kleine Hochschule wie die HTW muss eingebunden sein in ein funktionierendes Ökosystem mit der Nähe zu Partnerinstitutionen, vielfältigen Freizeit- und Wohnungsangeboten für Studenten, attraktive urbane Strukturen.

Die Regierung hat sich bezüglich Standort eines Hochschulzentrums bereits für Chur entschieden und dabei die Standorte Neumühle und Pulvermühle favorisiert. Wie beurteilen Sie das Potenzial dieser Areale?

Der Vorteil des Neumühleareals ist die gute Anbindung an den Bahnhof, aber die verfügbare Fläche lässt keinen Raum für Wachstum. Der Standort Pulvermühle ist in grösserer Distanz zum Bahnhof und befindet sich in einem weniger attraktiven Gewerbegebiet. Beiden Standorten fehlt die Anbindung an die städtischen Strukturen.

Mit dem Neubau der Justizvollzugsanstalt in Realta und dem neuen Verwaltungsgebäude «Sinergia» werden in der Altstadt zahlreiche Räumlichkeiten frei. Sie plädieren nun dafür, diese Areale ebenfalls in die Überlegungen für einen Campus-Standort miteinzubeziehen. Was fasziniert Sie an dieser Idee?

Ein Standort, der noch nicht diskutiert wurde, ist die Altstadt von Chur selber. Diese Idee wäre durchaus reizvoll. Dort werden in den nächsten Jahren in bester Zentrumslage sehr grosse Büroflächen frei: 400 Mitarbeiter der Kantonsverwaltung werden 2020 in das neue Verwaltungszentrum «Sinergia» in Chur West zügeln. Im Rahmen einer zweiten Bauetappe sollen weitere 270 Arbeitsplätze dorthin verlagert werden. Zudem wird die Haftanstalt Sennhof in der Churer Altstadt frei, sobald der Gefängnisneubau bezugsfertig ist. Viele der frei werdenden Flächen befinden sich in kantonalem Eigentum.

Aber was wären die Vorteile an dieser Lage?

Der überwiegende Teil der schon bald vakanten Liegenschaften befinden sich zwischen der Kathedrale und dem Grossratsgebäude in einem engen Perimeter – was gute Voraussetzungen für einen innerstädtischen Campus bietet. Darunter sind geschichtsträchtige Bauten wie der 400 Jahre alte Sennhof und das repräsentative Regierungsgebäude, aber auch geräumige Liegenschaften und Parzellen mit Verdichtungspotenzial. Denkbar wäre also die Entwicklung einer attraktiven Mischung aus historischer Bausubstanz und moderner Architektur – und dies eingebettet in eines der reizvollsten Quartiere von Chur zwischen Kathedrale, Weinberg und den mittelalterlichen Gassen der Altstadt. Ein weiterer Pluspunkt: Das Areal befindet sich in Laufentfernung zum Bahnhof Chur.

… aber wo wäre hier das Ökosystem, von dem sie sprachen?

Dieser Standort bietet die Nähe von Institutionen mit Synergiepotenzial: Mit der angrenzenden Kantonsschule, dem Priesterseminar, der Theologischen Hochschule und der Kantonsbibliothek entstünde ein Cluster von Bildungseinrichtungen. In direkter Nachbarschaft entsteht die neue Zentrale der IT-Firma Inventx. Die hinter der Kathedrale liegenden Sportstätten und das Freibad Sand stünden den HTW-Studenten zur Verfügung. Auch die wenig ausgelasteten Räumlichkeiten des Theaters könnten eventuell von der Hochschule mitgenutzt werden. Ein entscheidender Vorzug dieses Standorts wäre darüber hinaus die «Symbiose» zwischen Chur und HTW.

Was meinen Sie mit der Symbiose zwischen Stadt und Hochschule?

Die HTW würde vom Flair der Churer Altstadt profitieren und von ihren Einkaufs- und Ausgangangeboten. Die damit verbundenen Vorteile zeigen sich an attraktiven historischen Universitätsstädten wie Fribourg, Oxford oder Heidelberg. Wenn die Studentenzahlen aufgrund des demografischen Wandels künftig zurückgehen, werden es Hochschulen mit «Retortenstandorten» auf der grünen Wiese schwerer haben, sich im verschärften Wettbewerb zu behaupten. Ein urbaner Standort wäre für die HTW ein Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb mit anderen Fachhochschulen.

Inwiefern würde die Stadt Chur von einer HTW in der Altstadt profitieren?

Die Integration der HTW könnte auch für die Stadt Chur von strategischer Bedeutung sein. Bislang ist unklar, wie die vielen freiwerdenden Liegenschaften der Kantonsverwaltung künftig genutzt werden. Es könnte zu Überkapazitäten am Markt für Büroliegenschaften kommen. Der Verlust von mehreren Hundert Arbeitsplätzen wird der Gastronomie und dem Einzelhandel schlagartig Kaufkraft entziehen. Die Mitarbeiter und Studenten der HTW würden diese Lücke füllen, und sie brächten neues Leben in die Altstadt. Zudem würden sie zur demografischen Verjüngung der Stadt und zum intergenerationellen Austausch beitragen.

Das Gefängnis und das neue Verwaltungsgebäude sind bereits im Bau. Ist es zeitlich realistisch, die Campus-Idee mit den frei werdenden Gebäuden zu verknüpfen?

Die innerstädtischen Liegenschaften werden 2020 bis 2021 frei. Diese drei bis vier Jahre kann man für Planung und Bauvorbereitung nutzen. Eine solche Vorlaufzeit würde man auch an den anderen Standorten benötigen. Ein Vorteil dieses Standortes wäre die Tatsache, dass die Verlagerung von HTW-Fakultäten schrittweise erfolgen könnte – anders als beim Neubau eines Campus auf der grünen Wiese, der erst dann wirklich funktioniert, wenn er über eigene kritische Masse verfügt. Das Projekt liesse sich also in Etappen realisieren und wäre somit auch finanziell für den Kanton leichter zu stemmen.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit diese Vision Wirklichkeit werden könnte?

Der Kanton hat kürzlich eine Arbeitsgruppe gegründet, um die möglichen Standorte für einen HTW-Campus zu evaluieren. Bei diesem Prozess sollte der innerstädtische Standort ebenfalls einbezogen werden, und zwar anhand eines klar definierten Kriterienkatalogs, der auch Aspekte wie Standortattraktivität und Synergien mit benachbarten Institutionen berücksichtigt. Für die Standorte in der näheren Auswahl müssten auch architektonische Vorstudien gemacht werden. Zentraler Akteur ist sicherlich der Kanton. Es geht hier um eine grosse kantonale Investition und eine strategische Entscheidung von kantonaler Bedeutung. Sie muss wohl überlegt und gut vorbereitet sein. Auch für die Stadt Chur geht es um eine Entscheidung von grosser Tragweite, und entsprechend aktiv sollte sie diesen Prozess begleiten – zum Beispiel durch die zügige Erarbeitung planerischer Grundlagen oder die Bereitstellung städtischer Liegenschaften. Die HTW muss eine klare Vision entwickeln, wie sie in 20 bis 30 Jahren aufgestellt sein will – mit wie viel Studenten, mit welchem Fächermix, mit welchen Unterrichtsmethoden. Nur so kann heute ein Standortentscheid gefällt werden, der auch langfristig tragfähig ist.

Dieses Interview ist in der Ausgabe vom 11. April 2017 im «Bündner Tagblatt» erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.Mehr zum Thema im «Bündner Tagblatt»:
«Altstadtcampus mit Potenzial für ein städtebaulich imposantes Ensemble» (11. April 2017).
«Altstadtcampus regt zum Nachdenken an»;
«Studieren in der ältesten Stadt der Schweiz» (12. April 2017).