Seit dem 1. Juni 2002 sind die Bilateralen I in Kraft. Das Paket mit sieben Dossiers regelt die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU). An der Volksabstimmung vom 21. Mai 2000 stimmte der Schweizer Souverän dem Paket mit 67,2% Ja-Stimmen zu. Verhandlungen zu neun weiteren Dossiers führten in der Folge zu den Bilateralen II. Seither hat eine Vielzahl an Studien die Wirkungen auf die Schweiz aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht. Auch im Zuge der aktuell laufenden Diskussion um ein Institutionelles Rahmenabkommen (InstA), das für die bilateralen Marktzugangsabkommen das Prinzip der dynamischen Aktualisierung einführen soll, werden Analysen aufdatiert und neue publiziert. Grossmehrheitlich kommen diese datenbasierten Studien zum Fazit, wonach die im Zuge der Umsetzung der Bilateralen resultierende engere Verflechtung der Schweiz mit der EU unserem Land gesamthaft ökonomische Vorteile einbrachte. Im vorliegenden Beitrag wird auf die Entwicklung der Beschäftigten – die vom Export in den EU-Markt abhängig sind – seit Inkrafttreten der Bilateralen I fokussiert. Die Beschäftigungswirkung wird dabei bis auf Stufe der Kantone analysiert.

1. Die wirtschaftliche Entwicklung in der Ära der Bilateralen

Eine zentrale Fragestellung für die Beurteilung der bilateralen Verträge – und damit zusammenhängend die Diskussion um das Institutionelle Abkommen – ist deren Einfluss auf den wirtschaftlichen Gang der Schweiz. So einfach die Fragestellung klingt, so herausfordernd ist es, aufgrund der Datenlage und den weiteren Einflüssen auf die wirtschaftliche Entwicklung die Wirkung der Bilateralen isoliert zu bestimmen.

Die Wirtschaftsdaten seit Inkrafttreten der Bilateralen zwischen 2002 und 2018 zeigen, dass in dieser Zeitperiode die konjunkturelle Entwicklung insgesamt positiv war. Insbesondere die boomenden Exporte waren einer der Haupttreiber für das Wachstum des realen Bruttoinlandproduktes (BIP) pro Kopf um durchschnittlich 0,9% pro Jahr. Dies resultierte in einer Reallohnentwicklung von durchschnittlich +0,7% pro Jahr (vgl. Abbildung 1; Bundesamt für Statistik, 2018a, Grünenfelder und Schellenbauer, 2018).

Eine wichtige Kenngrösse, und eine für die Öffentlichkeit unmittelbare spürbare, ist die Anzahl der Beschäftigten. Statistisch werden als Beschäftigte alle Personen definiert (Angestellte und Selbständigerwerbende), die Waren oder Dienstleistungen erzeugen. Basierend auf den Zahlen des Bundesamtes für Statistik hat sich seit 2001 die Zahl der Beschäftigten in der Schweiz um rund 1,2 Millionen erhöht. Auch in Vollzeitäquivalenten gerechnet fand ein Zuwachs um knapp 600‘000 Arbeitnehmer statt, aufgrund der Datenlage kann für diese Kenngrösse jedoch nur der Zeitraum 2005-2014 überblickt werden. Sowohl Beschäftigte wie auch Vollzeitäquivalente zeigen einen beinahe kontinuierlichen Anstieg, obwohl in diese Zeitspanne auch die Finanz- und Währungskrise fiel und der Schweizer Franken zeitweise abrupt an Wert gewann. Ein wichtiger Treiber des Beschäftigungswachstums waren die Exporte, insbesondere als Mitte der 2010er Jahre die Konjunktur im mit Abstand wichtigsten Absatzmarkt Deutschland kräftig anzog.

2. Hohe relative und absolute Bedeutung des EU-Binnenmarktes für die Schweizer Exporte

Relativ betrachtet hat zwischen 2002 und 2018 der Anteil der EU an den gesamten Schweizer Warenexporten von 64% auf 52% abgenommen, spiegelbildlich ist der Anteil der Nicht-EU-Länder gestiegen (Dümmler, 2016; Eidgenössische Zollverwaltung, 2019). Damit zeigt sich die gute Diversifikation der Schweizer Exportwirtschaft, die nicht nur auf dem europäischen, sondern auch auf den globalen Märkten erfolgreich tätig ist. Mit dem vorgesehenen Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU («Brexit») wird der EU-Anteil unter die 50%-Marke fallen. Für die inländische Wertschöpfung, d.h. letztlich für die Schaffung von Arbeitsplätzen, sind aber nicht die relativen Grössen ausschlaggebend, sondern die absoluten Zahlen. Seit 2002 nahmen die Warenexporte in die EU um knapp 35 Mrd. Fr. zu. Im Vergleich zu den fünf nächstwichtigsten Exportmärkten für Schweizer Unternehmen entspricht diese Zunahme in etwa den kumulierten Handelsgewinnen im Warenexport mit den USA (zweitwichtigster Exportmarkt) und China (drittwichtigster Exportmarkt; vgl. Abbildung 2).

Dank den bilateralen Verträgen und der starken Exportorientierung ihrer Wirtschaft ist die Schweiz überdurchschnittlich dicht mit dem EU-Binnenmarkt verflochten. Gemäss einer Studie (mit Daten von 2012) belegt die Schweiz nach Belgien und Irland Platz 3 und positioniert sich mit bedeutendem Abstand in Bezug auf die ökonomische Integrationstiefe vor den übrigen EU-Ländern (EU-Index, 2019; Schellenbauer und Schwarz, 2015).

3. Rund eine Million Beschäftigte in der Schweiz vom EU-Binnenmarkt abhängig

Seit Inkrafttreten der Bilateralen I sind die vom Export in den EU-Binnenmarkt direkt abhängigen Beschäftigten in der Schweiz von 617’000 (2002) auf 860’000 (2016, letzte, verfügbare Zahlen) gestiegen (+39%). Relativ zu allen Beschäftigten stieg der Anteil von 15,8% auf 16,8%. Es handelt sich dabei um eine konservative Schätzung, weil einerseits der ganze Tourismussektor nicht einberechnet wurde und anderseits, weil die indirekten Beschäftigungswirkungen (Multiplikatoreffekte) ebenfalls nicht berücksichtigt wurden (vgl. Textbox).

Von den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zu den Ländern der EU profitieren heute zwischen einem Fünftel und einem Sechstel der Beschäftigten in der Schweiz – dies sind rund eine Million Beschäftigte. Diese konservative Schätzung wird gestützt durch Untersuchungen der OECD (2016), die von rund 50% der hierzulande Beschäftigten ausgehen, die für den Export arbeiten. Bei einem EU-Anteil an den Gesamtexporten der Schweiz von gut 51% sind dies bei über 5,1 Millionen Beschäftigten rund 1,3 Millionen, deren Arbeitsplatz vom Zugang zum EU-Markt abhängt.

Textbox: Grundlagen der Schätzung

Zentrale Frage und Formel zur Berechnung

Wie viele Beschäftigte pro Kanton sind vom Export in die EU abhängig?

Näherungsweise kann dazu folgende Formel benutzt werden:

Variablen
n Kanton n
b Beschäftigte
x Exporte Waren oder Dienstleistungen
eu Austausch Waren oder Dienstleistungen mit der EU
g Waren bzw. Güter
d Dienstleistungen
va inländischer Wertschöpfungsanteil
y Bruttoinlandprodukt (BIP)

Technische Hinweise
– Beschäftigte (b) bezeichnen besetzte Stellen. «Obwohl sich ihre Bedeutungsfelder stark überschneiden, ist unter den Begriffen «Beschäftigte (besetzte Stellen)» und «Erwerbstätige» nicht dasselbe zu verstehen, kann doch eine erwerbstätige Person mehrere Stellen besetzen.» (Bundesamt für Statistik, 2018b, S. 6). Da für 2002 die Zahl der Beschäftigten nicht erhältlich ist, wurde die Anzahl der Beschäftigten 2001 als Näherungswert genommen (basierend auf den Daten der Betriebszählung) (Bundesamt für Statistik, 2019c und 2019d).
– Es wurden kantonale Zahlen zu den Warenexporten (gxeu) ohne Gold in Barren und andere Edelmetalle, Münzen, Edel- und Schmucksteine sowie Kunstgegenstände und Antiquitäten verwendet, sog. Total «Konjunktursicht» (Total 1). Die von der Eidgenössischen Zollverwaltung nicht einem Kanton zugeteilten Warenexporte (2002: 3,4% bzw. 2016: 1,2% der Gesamtexporte) wurden proportional zum Warenexport den Kantonen zugerechnet (Eidgenössische Zollverwaltung, 2019)
– Für die Ermittlung der Dienstleistungsexporte (dxeu) auf kantonaler Basis dienten die Dienstleistungsexporte der Schweiz in die EU als Basis. Für 2002 musste dafür zuerst das durchschnittliche, jährliche Wachstum (CAGR) der Dienstleistungsexporte der Schweiz in die EU für die Periode 2012-2017 ermittelt werden (jeweils ältester und neuester, erhältlicher Datenpunkt). Mithilfe dieser Wachstumsrate wurde dann bis 2002 zurückgerechnet. Da es keine kantonalen Zahlen der Dienstleistungsexporte gibt wurden die Schweizer Zahlen proportional zu den Beschäftigten pro Kanton im dritten Sektor auf die Kantone verteilt. Für den Datenpunkt 2002 standen dafür nur die kantonalen Beschäftigungszahlen von 2001 zur Verfügung. Bei den Zahlen zu den Dienstleistungsexporten wurden die Leistungen des Tourismus nicht miteingerechnet, da die Schweiz auch ohne präferierten Zugang zum EU-Markt, z.B. über die unilaterale Abschaffung der Visumspflicht, den Zugang der Touristen sicherstellen könnte (Bundesamt für Statistik, 2019c und 2019d; Schweizerische Nationalbank, 2019b).
– Der Wertschöpfungsanteil (va) korrigiert die Exporte mit einem Faktor, der Komponenten oder Vorleistungen abzieht, die aus dem Ausland bezogen werden. Grundlage ist dabei die Kennzahl «Trade in Value Added» (TiVA), Domestic value added of gross exports» für die Schweiz. Für Waren wurde der Wert von «Industry (mining, manufactures and utilities)», für Dienstleistungen jener von «Total services» gewählt. Da für 2002 keine Daten erhältlich waren wurde, der Wert von 2005 eingesetzt (ältester, verfügbarer Wert) (OECD, 2019b).
– Die kantonalen BIP-Zahlen (y) konnten für 2016 aus der Statistik entnommen werden. Die Werte für 2002 wurden folgendermassen approximativ berechnet: Proportionale Verteilung des BIP der Schweiz 2002 anhand der kantonalen BIP 2008 (älteste, verfügbare Zahl) (Bundesamt für Statistik, 2018c).
– Schliesslich wurden die mit obiger Formel errechneten kantonalen Beschäftigten, die vom Export in die EU abhängig sind, auf 1000 bzw. für Appenzell-Innerrhoden auf 100 Beschäftigte gerundet.

Die Analyse zeigt: Vom Beschäftigungswachstum haben weitgehend alle Kantone und Landesregionen profitiert, also nicht nur die Grenz- und Mittellandkantone, die aufgrund ihrer geografischen Lage und Wirtschaftsstruktur 2002 bessere «Startvoraussetzungen» aufwiesen (vgl. Abbildung 3). Parallel zur weitergehenden Integration in den europäischen Markt profitierte der Werkplatz Schweiz stark von der Arbeitsteilung globalisierter Wertschöpfungsketten, weil hierzulande besonders wertschöpfungsintensive Tätigkeiten angesiedelt wurden.

Die wohl grösste Beschäftigungswirkung ist auf Exporte von Produkten für die Gesundheit, wie pharmazeutische und biotechnologische Präparate, medizintechnische Produkte sowie Diagnostika zurückzuführen. So stiegen in den Kantonen Aargau und Basel-Landschaft die Exporte der Health Tech Industrie in den EU-Raum markant an. Beide Kantone dürften dabei nicht nur vom Aufbau neuer Kapazitäten, sondern auch von Standortverlagerungen aus Basel-Stadt heraus profitiert haben. Zusätzlich könnte bei Basel-Landschaft auch der sogenannte Rotterdam-Effekt eine Rolle spielen. Beim Kanton Genf kann der Beschäftigungszuwachs im Export in die EU weitgehend auf die Branchen Uhren und Bijouterie zurückgeführt werden. Der Kanton Waadt hingegen konnte insbesondere den Export landwirtschaftlicher Produkte, der Kanton Zürich die Ausfuhr von Präzisionsinstrumenten – darunter auch medizintechnische Geräte – in die EU markant steigern.

Der sog. «Rotterdam-Effekt» bezeichnet den Umstand, dass viele Waren zuerst zu grossen Frachthäfen gebracht werden, um danach per Schiff an ihre eigentlichen Zielorte transportiert zu werden. Dabei wird fälschlicherweise oft der Frachthafen (bzw. das jeweilige Land) als Zielort des Exports statistisch erfasst. In der Schweiz könnte dies bedeuten, dass Waren, die ab einem der Rheinhäfen in Basel-Stadt oder Basel-Landschaft (Birsfelden und Muttenz) verschifft werden, fälschlicherweise dem jeweiligen Kanton als Export angerechnet werden. Die Warenexporte der beiden Kantone könnten deshalb statistisch überschätzt sein. Auf Ebene der Gesamtschweiz hebt sich dieser Effekt wieder auf.

4. Fazit

Die Schweiz als Exportnation verkauft täglich Waren und Dienstleistungen von knapp 900 Mio. Fr. ins Ausland. Davon gehen jedes Jahr 52% oder 169 Mrd. Fr. in die EU (2017). Diese prioritäre Exportorientierung der Schweizer Unternehmen auf die EU-Mitgliedsstaaten, unseren «Heimmarkt vor der Haustür», ist volkswirtschaftlich so bedeutend, dass hierzulande – konservativ gerechnet – direkt über 860‘000 Beschäftigte auf dem Schweizer Arbeitsmarkt davon profitieren. Indirekte Wirkungen eingerechnet kann gefolgert werden, dass heute rund eine Million Beschäftigte in der Schweiz vom Zugang zum EU-Binnenmarkt profitieren.

Ein weiterer Vorteil für den hochproduktiven Schweizer Exportsektor ist die immer stärkere Globalisierung der Wertschöpfungsketten. Einzelne Komponenten und Vorleistungen werden zunehmend aus Drittländern bezogen, in der Schweiz zusammengebaut und veredelt. Von diesen oftmals tieferen Vorleistungspreisen im EU-Ausland profitiert die gesamte Schweizer Exportwirtschaft. Schweizer Produkte können so auch auf dem EU-Binnenmarkt kompetitiv angeboten werden, was wiederum zu positiven Effekten bei Exportmengen und Beschäftigung in der Schweiz führt.

Der heute garantierte, direkte Zugang der Schweiz zum europäischen Binnenmarkt hat sich als «Beschäftigungs-Katalysator» erwiesen, von dem nicht nur die exportorientierte Volkswirtschaft (Meyer et al., 2018), sondern auch die nach innen gerichtete Binnenwirtschaft, beispielsweise durch erhöhte Konsumausgaben, profitiert. Entsprechend sind auch diese ökonomischen Auswirkungen in der laufenden Diskussion um das Institutionelle Abkommen zu berücksichtigen. Dieses Abkommen würde der Schweiz auch in Zukunft mit einem präferierten Marktzugang eine gleichberechtigte Teilnahme am Binnenmarkt ermöglichen.

Download der Analyse inkl. Literaturverzeichnis