Wir haben in der Schweiz das Privileg, gleich über zwei exzellente Bildungswege zu verfügen. Um den einen beneidet uns zur Zeit halb Europa: die Berufslehre. Sie bietet jungen Leuten Karrierechancen und gesellschaftliche Anerkennung, die sie anderswo nicht hätten. Über die Berufsmatura und die Fachhochschulen steht ihnen die höhere Bildung offen. Die Gymnasien unterrichten international auf hohem Niveau und der Präsident der ETH Lausanne, Patrick Aebischer, rechnete kürzlich vor, dass die Hälfte der Schweizer Studierenden eine der 200 besten Universitäten der Welt besucht. Wir könnten uns also glücklich schätzen. Doch die Vertreter der beiden Säulen stehen sich argwöhnisch gegenüber.
Auf Seiten der Berufsbildung prangert man die Akademisierung an, und dies nicht ganz zu Unrecht. Braucht es zur Führung eines Schulkiosks mit niederschwelligem sozialem Präventionsangebot wirklich einen Hochschulabschluss in Sozialarbeit? Das Gewerbe macht sich Sorgen über den Nachwuchs für die Berufslehre und greift dafür auch zur verbalen Keule. Lebensferne Theoretiker seien es, die die Universitäten hervorbrächten, und dazu gingen die meisten den Weg des geringsten Widerstands (sprich: sie studieren Phil I) statt Ingenieur oder Chemikerin zu werden. Dabei wüssten wir dank dem Wanderprediger der Berufsbildung, warum wir so reich sind, nämlich dank den zupackenden Praktikern des Werkplatzes. Auch dies ist nicht ganz falsch, aber eben nur halbwahr. Dass die Schweizer Löhne zu den höchsten der Welt gehören, weil die Wirtschaft zunehmend dienstleistungsorientiert und wissensbasiert agiert und dass dafür zunehmend theoretisches Wissen erforderlich ist, wird unter den Teppich gekehrt.
Und die Akademie? Sie versucht erst gar nicht, die Vorwürfe der Berufsbildung mit guten Argumenten zu entkräften. Viel schlimmer: Sie straft sie mit Nichtbeachtung. Vor kurzem wurde ich vom Verband der Studierenden einer Schweizer Universität gefragt, ob ich in einem Zyklus zur Bildungspolitik eine Vorlesung halten würde. Auf dem Programm fehlte die Berufsbildung. Ich antwortete deshalb, dass ich etwas zur Berufsbildung beitragen würde, denn ohne diese könne man das Schweizer Bildungssystem nicht verstehen. Antwort erhielt ich keine, seither herrscht Funkstille. Mit den Niederungen der Berufslehre mag man sich an der Alma Mater nicht befassen. Das geht zuweilen soweit, dass man die Berufsbildung als nutzenfixierte «Ausbildung» abtut, um sie von der «wahren Bildung» des Humboldtschen Ideals abzugrenzen.
Nichtbeachtung auf der einen, Polemik auf der anderen Seite. Zerrbilder und Vorurteile prägen die Debatte. Der heraufbeschworene Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern ist unproduktiv, denn er zielt an den Herausforderungen vorbei. Es ist offensichtlich, dass wir beides brauchen, und zwar in Kombination. Spätestens an der ersten Stelle werden auch Hochschulabsolventen praxistauglich sozialisiert. Immer mehr Lehrabgänger vertiefen ihr theoretisches Rüstzeug später an den Hochschulen oder in der höheren Berufsbildung. Wir sollten die Berufslehre als praktischen Einstieg in die Bildungskarriere verstehen, das Hochschulstudium als theoretischen Einstieg in die Berufspraxis. Damit wäre viel gewonnen und Verbesserungsbedarf gibt es auf beiden Seiten. Über die richtigen Anteile von Theorie und Praxis muss der Arbeitsmarkt entscheiden.
Dieser Artikel erschien im «Tagesanzeiger Politblog» vom 12. Oktober 2015.