Die Schweiz hat ein breit abgestütztes Bildungssystem. Doch die Digitalisierung mischt die Karten neu: Ein Grossteil der kommenden Generationen wird Berufe ausüben, die es heute noch gar nicht gibt. Entsprechend hoch sind die Erwartungen.

Konstante Wirtschaftskraft

«Nichts ist beständiger als der Wandel.» Die Aussage geht auf den Evolutions- und Naturforscher Charles Darwin zurück. Doch auch in der Wirtschaftswelt haben sich der Wandel und die Änderungen auf dem Arbeitsmarkt als Konstante der wirtschaftlichen Entwicklung herauskristallisiert. So suggeriert bereits der Begriff «Industrie 4.0» eine Art Upgrade aktueller Wirtschaftsverhältnisse.

Tatsächlich prägt eine starke Dynamik unsere Wirtschaftswelt: Gemäss dem Bundesamt für Statistik sind im Jahr 2013 gesamthaft 37’317 Unternehmen gegründet worden, 32’044 Unternehmen traten im gleichen Jahr aus dem Markt aus. Solche Veränderungen wirken sich auch auf den Arbeitsmarkt aus. Obwohl jedes Jahr rund 15% aller Arbeitsstellen verlorengehen, bleibt der Saldo positiv: Zwischen 2006 und 2016 sind jährlich 70’000 Stellen zusätzlich besetzt worden. Diese Entwicklung wird durch die tiefen Erwerbslosenzahlen der Schweiz unterstrichen.

Unbekannte Berufe ausüben

Die Digitalisierung wird weiter neue Stellen schaffen. Extremere Prognosen gehen davon aus, dass ca. 65% der Kinder, die heute mit der Primarschule beginnen, einen Job ausüben werden, den es heute noch gar nicht gibt.

Die Digitalisierung ist seit den 1960er Jahren im Gang – ohne grössere Auswirkungen auf das Bildungssystem der Schweiz. (ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Damit wächst die Bedeutung von Weiterbildungen und vor allem der dem Arbeitsmarkt vorgelagerten Bildung. Bildungsreformen gehören zu den liberalsten und effizientesten Massnahmen, mit denen der Staat in Zeiten digitaler Umwälzung verschiedene Lebensbereiche begleiten und unerwünschte Begleiterscheinungen abfedern kann. Mit diesen Herausforderungen sehen sich zurzeit alle Industrieländer konfrontiert. Dass die Schweiz punkto Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft immer mit den Grossen mithalten konnte, wie verschiedene Rankings bestätigen, hat sie ihrem Bildungssystem zu verdanken. Doch diese Vorteile müssen erhalten bleiben. Hier besteht in der Schweiz in Anbetracht der Digitalisierung Aufholbedarf.

Die Schweiz im Digitaltest

Wie schlägt sich das Schweizer Bildungswesen überhaupt im Digitaltest? Ein Blick ins Ausland legt nahe, dass die Schweiz, vor allem im Volkschulbereich, hinterherhinkt. In Teilen Deutschlands wird Informatik bereits in der 5. Klasse unterrichtet, auch Italien und Frankreich haben den Informatikunterricht in die Primarschule integriert.

Digitales Denken ist in den Schweizer Volksschulen kaum erkennbar. Im Vergleich zu ihren internationalen «Gspönli» fühlen sich Schweizer Kinder weniger kompetent im Umgang mit den Informations- und Kommunikationsmedien. Diese Lücke soll im Rahmen des Lehrplans 21 mit dem Fach «Medien und Informatik» geschlossen werden. Bezeichnenderweise liegt der Schwerpunkt hier aber auf sozialen Medien und deren Nutzung. Zweifellos ist die (kritische) Medien- und Anwendungskompetenz ein essenzieller Bestandteil heutiger Bildung. Doch es braucht ein Grundverständnis des Programmierens und der Logik, auf der die Digitalisierung fusst. Andernfalls werden die zukünftigen Generationen nur die Technik bedienen, die Weiterentwicklung der Technologie aber nicht mitgestalten können. Hier gilt es den Ausgleich zwischen der Förderung digitaler, aber auch breiter gefasster menschlicher Kompetenzen zu suchen. Empathie, Eignung für Teamwork, Versatilität, kritisches Denken, Sozialkompetenz und Führungsqualitäten bilden die komparativen Vorteile von Menschen gegenüber Maschinen.

Informatik als Pflichtfach

Gemäss Juraj Hromkovic, ETH-Professor und Spezialist für die Vermittlung von Basiswissen in der Informatik, wurde seit der Maturreform Mitte der 1990er Jahre Informatik auch an den Gymnasien falsch unterrichtet. Es standen lediglich die Betriebsanleitungen von Soft- und Hardware im Vordergrund. Insofern ist das Vorhaben der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Informatik als Pflichtfach am Gymnasium einzuführen, begrüssenswert. Nicht, um in Zukunft partout nur noch Informatiker auszubilden, sondern weil Informatik wichtige Grundkompetenzen wie eigenständiges, kreatives, kritisches und logisches Denken begünstigt. Neue Problemstellungen müssen innovativ, experimentell und exakt gelöst werden.

Zukünftig könnte man auch darüber diskutieren, einen Matura-Typus spezifisch für Informatik («Typus I») einzuführen. Denn das Thema umfasst neben technischen auch sozialpsychologische, datenschutztechnische und gesellschaftliche Aspekte und würde dem mangelnden Nachwuchs in den Mint-Fächern entgegenwirken. Fakt ist, dass Schweizer Firmen vor allem im Bereich der Mint-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) mehr Fachleute im Ausland anwerben, als im Inland ausgebildet werden. Dieses strukturelle Ungleichgewicht wird in Zukunft nicht mehr so einfach durch den Import von ausländischen Fachkräften kompensiert werden können. Der Dachverband der Informations- und Kommunikationstechnologiewirtschaft, ICT Switzerland, geht für das Jahr 2024 trotz gestiegener Anzahl Ausbildungsplätze von einem Fachkräftemangel von ungefähr 25’000 Personen aus.

Grundverständnis für maschinelle Logik

Ein zukünftiges Bildungssystem muss sowohl die nur schwer automatisierbaren Fähigkeiten als auch digitale Kompetenzen sowie ein Grundverständnis für maschinelle Logik fördern. Dies gilt als Voraussetzung dafür, dass Mensch und Maschine in einem ergänzenden Arbeitsverhältnis zueinanderstehen werden. Bildung ist die nachhaltigste Prävention gegen die allfälligen unangenehmen Begleiterscheinungen der Digitalisierung. Die Schweiz verfügt über sehr gute Voraussetzungen, um die Vorteile der Digitalisierung auch im Bildungswesen zu integrieren – ohne komplette Digitalisierung des analogen Schulraums. Vielmehr geht es um die kritische, umfassende und ergänzende Verwendung digitaler Lehrmittel dort, wo sie sinnvoll eingesetzt werden können.

Dieser Beitrag ist am 24. Mai 2016 in der Zeitschrift «immobilia» (svit) erschienen.