Andreas Minder: Warum hat Avenir Suisse die Bedeutung der Migration für die Schweizer Wirtschaft untersucht?

Patrick Leisibach: Weil das Thema für die Schweiz so wichtig ist. Im Austausch mit der Wirtschaft hören wir immer wieder, wie bedeutsam ausländische Fachkräfte im Innovationsbereich sind. Die Schweiz ist ein Hochlohnland. Ihren Wohlstand verdankt sie einer Exportindustrie, die Güter und Dienstleistungen erzeugt, für die man weltweit bereit ist, hohe Preise zu zahlen. Das geht nur, wenn wir dem Ausland immer einen Schritt voraus sind. Dafür brauchen wir laufend Innovation. Die Wirtschaft muss tagtäglich besser werden, sie muss bessere Produkte und Prozesse haben, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Innovation ist das Ergebnis von erfinderischen, intelligenten Menschen, die insbesondere im Team grosse Leistungen erbringen. Wir haben uns deshalb gefragt: Was sind das für Menschen, die bei uns für die Innovation verantwortlich sind?

Welche Antwort haben Sie gefunden?

Dazu muss ich kurz ausholen. Die Schweiz ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Einwanderungsland. Unsere Wirtschaft ist schon lange grösser, als sie sein könnte, wenn sie sich nur auf die inländische Demografie stützen würde. Das zeigt sich an beiden Enden des Qualifikationsspektrums. Wir haben zu wenig Menschen, die die körperlich anstrengenden Jobs machen. Und wir haben bei den Top-Jobs – von der Unternehmerin, über den Manager bis zur Professorin – zu wenig Schweizerinnen und Schweizer, die diese Stellen übernehmen könnten. In der Studie haben wir diesen zweiten Bereich untersucht. Dieser Teil der Zuwanderung wurde im Gegensatz zum Tieflohnbereich lange Zeit positiver bewertet, wird aber zusehends auch kritischer gesehen. Dabei hat die Schweiz immer davon profitiert, dass Menschen mit Ideen, mit Träumen, mit Visionen ins Land gekommen sind. Die Mehrheit der Schweizer Grosskonzerne sind von Ausländern gegründet worden: Novartis, ABB, Swatch etc. Wir wollten wissen, ob das heute auch noch so ist.

Arbeiterinnen und Arbeiter in Arbeitsmontur, die sich die Hände halten

Rund die Hälfte der Schweizer Innovationsleistung wird durch Ausländerinnen und Ausländer erbracht. (Adobe Stock)

Was haben Sie herausgefunden?

Wir schauten uns die Ausländeranteile in allen Bereichen an, die für die Innovationskraft des Landes wichtig sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass rund die Hälfte der Innovationsleistung der Schweiz durch Ausländerinnen und Ausländer erbracht wird. Bei einem Bevölkerungsanteil von 26 Prozent stellen sie 39 Prozent aller Firmengründer, 50 Prozent aller Start-up-Gründerinnen und 37 Prozent aller Erfinder. An den Universitäten haben 51 Prozent der Professorinnen und Professoren einen ausländischen Pass, um ein paar Zahlen zu nennen. Tatsächlich dürfte der Migrationseffekt noch ungleich höher sein. Zum einen, weil es viele Schweizerinnen und Schweizer mit Migrationshintergrund gibt, zum andern, weil Schweizer Forschende produktiver werden, wenn sie mit Ausländerinnen und Ausländern zusammenarbeiten.

Was hat Sie an den Resultaten überrascht?

Einerseits, dass die Bedeutung in allen Bereichen hoch ist. Es gibt keinen Innovationsaspekt, der noch stark in Schweizerhand wäre. Zum andern waren wir erstaunt, wie stark europäisch die Zuwanderung auch in diesem Bereich ist. Klar, das ist geografisch, kulturell und sprachlich naheliegend. Aber dass der allergrösste Teil der Innovationsleistung von Europäerinnen und Europäern, und zwar vor allem von solchen aus den drei grossen Nachbarländern, geleistet wird, hätten wir in diesem Ausmass nicht gedacht. Wir haben erwartet, dass es zum Beispiel vergleichsweise mehr Leute aus Drittstaaten gibt, die Firmen gründen.

Liegt das auch an den politischen Rahmenbedingungen?

Ganz klar. Wir sind sehr restriktiv bei der Zuwanderung aus Drittstaaten. Aber dass diese Regeln sich auch im Bereich der Innovation so stark niederschlagen, ist nicht selbstverständlich.

Wie erklärt man sich eigentlich, dass die Zugezogenen so viel innovativer und erfolgreicher sind?

Die Leute, die hier einen Job antreten, haben ein anderes Profil als die Durchschnittsbevölkerung. Sie sind tendenziell jünger, sie sind besser qualifiziert und sie sind risikobereiter, sonst würden viele gar nicht erst in ein fremdes Land ziehen. Es sind Leute, die etwas erreichen und bewirken wollen. Dazu kommt, dass viele von ihnen in urbanen High-Tech-Sektoren landen. Wir haben am Genfersee oder in Zürich auf engstem Raum solche Cluster, die sehr attraktiv sind. So treffen Top-Leute auf Unternehmen und Hochschulen, die sich gegenseitig befruchten. Die mitgebrachten kulturellen Hintergründe und Erfahrungen tragen ebenfalls dazu bei. Man weiss, dass komplementäre Sichtweisen und Strategien der Innovation förderlich sind.

Können Sie etwas zur Bedeutung der Fluchtmigration für die Innovation sagen?

Wir haben das nicht speziell analysiert. Aber ich bezweifle, dass die heutige Fluchtmigration ein starker Innovationstreiber ist. Diese Menschen kommen auch aus anderen Gründen hierher. Viele sind im Tieflohnbereich tätig, wenn sie eine Arbeit annehmen dürfen und finden. Dabei ist zu erwähnen: Arbeitnehmende in eher geringqualifizierten Branchen ermöglichen es den Hochqualifizierten, ihre Ressourcen für die Innovation einzusetzen. Das ist komplementär. Es wäre schwierig, Top-Leute zu holen, wenn niemand da ist, der sie im Restaurant bedient oder ihre Kinder betreut. Darum ist es heikel, die eine gegen die andere Art von Migration auszuspielen.

Dieses Interview wurde von Andreas Minder geführt und ist in der Beilage «Alpha – Der Kadermarkt der Schweiz» in den Tamedia-Zeitungen vom 4. Mai 2024 erschienen. Teil 2 des Interviews ist in der Ausgabe vom 11. Mai 2024 erschienen.