«In der Schweiz sind rund 1,4 Millionen Menschen armutsgefährdet» oder «Jeder Zehnte hat Mühe, finanziell über die Runden zu kommen». Solche Schlagzeilen klingen alarmierend, doch sie zeigen nur einen Ausschnitt der Realität. Armut in der Schweiz ist ein vielschichtiges Phänomen, das sich nicht auf eine Zahl oder eine einfache Ursache reduzieren lässt. Drei zentrale Fragen helfen, das Bild zu schärfen.

1. Was bedeutet Armut?

Armut ist nicht gleich Armut. In der Forschung wird meist zwischen absoluter und relativer Armut unterschieden.

  • Absolute Armut bedeutet: Eine Person kann ihre grundlegenden Bedürfnisse nicht mehr decken – etwa für Essen oder medizinische Versorgung. In der Schweiz orientiert sich diese Definition am sozialen Existenzminimum, das auch eine minimale gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen soll. Auch wenn formal von absoluter Armut gesprochen wird, nähert sich diese Definition in der Schweiz inhaltlich bereits dem Konzept der relativen Armut (siehe unten) an – da das soziale Existenzminimum mehr umfasst als das reine physische Überleben.

Laut Bundesamt für Statistik (BFS) gilt als arm, wer weniger als 2315 Franken im Monat zur Verfügung hat (Einzelperson) – bei einer vierköpfigen Familie liegt die Schwelle bei 4051 Franken. Davon zu decken sind alltägliche Ausgaben wie Essen, Mobilität und Wohnen – nicht jedoch Krankenkassenprämien, Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. In Bezug auf das Bruttoeinkommen liegt die Armutsgrenze deshalb höher: bei ungefähr 3000 Franken (Einzelperson). Nach dieser Definition gelten etwa 8,1% der Bevölkerung oder rund 700’000 Menschen als arm.

  • Relative Armut beschreibt hingegen eine finanzielle Situation im Vergleich zum üblichen Einkommensniveau eines Landes. Sie wird über das sogenannte verfügbare Äquivalenzeinkommen gemessen. Ausgangspunkt ist das Bruttoeinkommen eines Haushalts, von dem Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und Krankenkassenprämien abgezogen werden. Anschliessend wird das verbleibende Einkommen mithilfe einer Äquivalenzskala angepasst, um die Haushaltsgrösse zu berücksichtigen.

Relativ arm bzw. «armutsgefährdet» ist, wer weniger als 60% des Medianäquivalenzeinkommens zur Verfügung hat – in der Schweiz liegt diese Grenze aktuell bei 2599 Franken für eine Einzelperson und 5457 Franken für eine vierköpfige Familie (Faktor 2,1). Rund jede sechste Person (16,1%) gilt nach dieser Definition als armutsgefährdet. Diese Menschen kommen häufig noch knapp über die Runden, verfügen aber über deutlich weniger Spielraum als der Durchschnitt.

Die politische Diskussion stützt sich oft auf das Konzept der relativen Armut. Der Haken daran: Wenn Armut relativ ist, gibt es auch dann noch Arme, wenn in absoluten Zahlen kaum noch jemand unter materieller Armut leidet. Die relative Armut bleibt per Definition unverändert, wenn alle Einkommen gleichmässig steigen. Ihre Bekämpfung ist daher eine Art politisches Perpetuum mobile. Armut wird dann zu einer Frage der Ungleichheit.

2. Wie arm ist die Schweiz?

Wer die Armut in der Schweiz untersuchen will, schaut deshalb besser auf die Zahlen zur absoluten Armut. Hier sind folgende Gruppen überdurchschnittlich betroffen: Menschen über 65, Alleinerziehende, Personen ohne weiterführende Schulbildung und Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Es lohnt sich jedoch ein noch genauerer Blick in die Statistik – die Realität ist differenzierter, als es die Zahlen vermuten lassen. Drei Punkte sind zentral:

  • Armut ist meist vorübergehend
    Die Politik ist oft von einer Verteilungsdebatte geprägt, die suggeriert, dass Menschen lebenslang in einer tiefen Einkommensklasse bzw. in Armut verharren. Doch «nur» 1,5% der Bevölkerung waren zwischen 2020 und 2023 durchgehend armutsbetroffen. Die Mehrheit ist nur kurzfristig arm, etwa nach einem Jobverlust oder einer Trennung. Neben staatlicher Hilfe können Haushalte Einkommenseinbussen denn auch oft durch Erspartes oder Unterstützung aus ihrem Umfeld überbrücken. Das ist wichtig, denn dauerhafte Armut ist weitaus belastender – für die Betroffenen wie auch für die Gesellschaft.
  • Altersarmut: nicht immer gleichbedeutend mit materieller Not
    Bei der Armutsmessung wird das Vermögen nicht berücksichtigt (Kapitaleinkommen jedoch schon). Viele Rentnerinnen und Rentner, die unter die Armutsgrenze fallen, verfügen jedoch über Erspartes oder Wohneigentum. Die statistische Armutsquote bei den Über-65-Jährigen liegt denn auch bei 15%, doch nur 4% der Über-65-Jährigen geben an, mit ihrer finanziellen Lage unzufrieden zu sein. Es wäre deshalb präziser, immer von Einkommensarmut zu sprechen.
  • Armut ist meist mit Erwerbslosigkeit verbunden
    Die mit Abstand wichtigste Trennlinie verläuft beim Arbeitsmarkt: Drei Viertel der armutsbetroffenen Personen sind nicht erwerbstätig. Bei den Erwerbstätigen liegt die Armutsquote bei 4,4%, bei den Nichterwerbstätigen bei 15,4%. Das Risiko, in Armut zu geraten, sinkt also um rund drei Viertel, wenn eine Person erwerbstätig ist. Bei Vollzeit-Erwerbstätigen liegt die Armutsquote sogar bei noch niedrigeren 2,8%. Armut kann also auch trotz Vollzeiterwerbstätigkeit vorkommen – etwa bei Tieflohnarbeit, wenn das Einkommen zwar für eine Einzelperson ausreicht, aber nicht für eine Familie mit Kindern. In der Armutsstatistik erfasst sind allerdings auch Personen in Übergangssituationen wie Praktika, deren finanzielle Lage kaum prekär ist und nur vorübergehend andauert.

3. Was hilft gegen Armut?

Armut ist nicht einfach eine Statistik, sondern sie betrifft und belastet Menschen in ihrem Leben massiv. Gerade deshalb greift ein oberflächlicher Blick auf die heute verbreiteten Statistiken zu kurz. Denn dann kommt statt einer gezielten Bekämpfung eine ineffiziente Giesskanne zum Zug. Etwas, was leider im politischen Alltag häufig zu beobachten ist.

Viele politische Forderungen – etwa Mindestlöhne, breite Prämienverbilligungen oder gemeinnütziger Wohnungsbau – haben oft wenig mit der direkten Bekämpfung von Armut zu tun. Sie kommen breiten Bevölkerungsschichten und oft sogar dem Mittelstand zugute. Das Nachsehen haben dann die wirklich Bedürftigen. Effektiver sind bedarfsorientierte Sozialtransfers, die gezielt Menschen in Notlagen unterstützen.

Was in der Schweiz zudem gänzlich fehlt, ist das Wissen darüber, wer von dauerhafter Armut betroffen ist – und warum. Solche Erkenntnisse wären entscheidend, um Massnahmen besser auszurichten. Denn je länger eine Person arm bleibt, desto schwerer wird der Weg zurück – oft geht dauerhafte Armut mit einem Verlust der Arbeitsmarktfähigkeit einher.

Arbeit ist denn auch der wirksamste Hebel im Kampf gegen Armut. Entscheidend sind die berufliche Integration und der Zugang zu Bildung für armutsbetroffene Menschen. Massnahmen wie etwa Mindestlöhne können in diesem Zusammenhang hingegen kontraproduktiv wirken – denn sie erschweren mitunter den Einstieg in den Arbeitsmarkt, besonders für Personen mit geringer Qualifikation oder lückenhaftem Lebenslauf.

Es mag paradox klingen, aber gerade ein liberaler Arbeitsmarkt schafft für «risikobehaftete» Bewerberinnen und Bewerber Chancen, da Arbeitgeber flexibler reagieren und Einstellungen mit geringerem Aufwand und Risiko vornehmen können. Ergänzend dazu sollten Sozialleistungen so ausgestaltet sein, dass Erwerbsarbeit stets finanziell attraktiver bleibt als der Verbleib im Sozialsystem.

Eines ist und bleibt klar: In einem der wohlhabendsten Länder der Welt sollte niemand in existenzieller Not leben müssen. Dennoch wird sich das statistische Phänomen Armut auch hier nie ganz vermeiden lassen. Es wird immer Menschen geben, die unter die Armutsgrenze fallen – etwa Studierende mit kleinem Budget oder Personen in temporären Notlagen, die bewusst auf staatliche Hilfe verzichten. Entscheidend ist, dass eine finanzielle Situation nicht als dauerhaft unzumutbar wahrgenommen wird – und dass Staat und Gesellschaft genau dort unterstützen, wo Hilfe nötig ist.