«Muss man Ludwig Erhard gelesen haben?» Diese Frage stellte mir vor einigen Jahren ein leitender Beamter im deutschen Wirtschaftsministerium. Ich war perplex, schliesslich war Erhard als erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland der Baumeister des deutschen Wirtschaftswunders. Er hatte sich an der Denkschule des Ordoliberalismus orientiert, die den Staat als Hüter des Wettbewerbs versteht, der aber nicht selbst am Markt aktiv ist. Im Jahr 1948, in Zeiten von massiven Engpässen und Mangelwirtschaft, gab er die meisten Preise frei. Im Nu füllten sich die Regale mit Waren.

In der Euro- und Staatsschuldenkrise der 2010er-Jahre musste der Ordoliberalismus als Sündenbock herhalten. So warf der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman der deutschen Regierung vor, die Krise verschlimmert zu haben, weil sie auf eine regelgebundene Wirtschaftspolitik pochte, also auf eine strikte Haushaltsdisziplin und geringe Staatsverschuldung.

Doch Kritiker wie Krugman lagen falsch. Länder mit gesunden Staatsfinanzen wie die Schweiz und Deutschland hatten genug Reserven, um die Coronapandemie wirtschaftlich abzufedern. Und hätte man sich an ein anderes zentrales Prinzip des Ordoliberalismus gehalten, wäre auch die Finanzkrise 2008/09 glimpflicher ausgefallen. So wurde das Haftungsprinzip im Finanzsektor lange Zeit sträflich vernachlässigt. Viele Banken hielten viel zu wenig Eigenkapital und wurden in der Finanzkrise vom Staat gerettet. «Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen», ist wohl der meistzitierte Satz des Ökonomen Walter Eucken (1891–1950), des führenden Kopfs des Ordoliberalismus.

Bedingt tauglich für die Plattformökonomie

Der Ordoliberalismus entstand in den 1930er- und 1940er-Jahren, also als Reaktion auf die Jahre der Weimarer Republik mit ihrer Hyperinflation, der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs des Nationalsozialismus. In der Weimarer Republik wurden Kartellvereinbarungen gesetzlich geschützt und Unternehmenskonzentrationen gefördert. Eucken plädierte deshalb für eine Marktwirtschaft, die frei ist, sowohl von staatlicher Willkür als auch von privater Wirtschaftsmacht. «Die Politik des Staats sollte darauf gerichtet sein, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktionen zu begrenzen»1Siehe Eucken (2004), S. 334. , schrieb er 1952. Folgerichtig setzte er sich für eine unabhängige Kartellbehörde ein, was eine Fusionskontrolle einschliesst. Eucken ging es darum, einen Leistungswettbewerb zwischen den Firmen anzustossen: «Es ist die vollständige Konkurrenz, die der modernen Wirtschaftsordnung ihr Gepräge zu geben hat.»2Siehe Eucken (2004), S. 247.

Vorsicht ist allerdings geboten, wenn man sich vom Ordoliberalismus Rezepte für den Umgang mit Tech-Giganten wie Google, Amazon, Facebook, Apple oder Microsoft erhofft. Solche Firmen gehören zur Plattformökonomie. Diese besteht aus digitalen Plattformen, die zwischen Anbietern und Nachfragern vermitteln. Damit erleichtern sie den Austausch von Gütern und Diensten. Die moderne Plattformökonomie neigt zur Konzentration, weil sie durch Netzwerkeffekte charakterisiert ist: Je mehr Käufer und Verkäufer sich auf einem digitalen Marktplatz tummeln, desto attraktiver ist er. Es ist wie bei einer Grossstadt, die davon profitiert, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen und Unternehmen auf engem Raum interagieren.

«Apple ist zwar nicht der einzige Handy-, Tablet- und PC-Hersteller der Welt, aber doch auf jeden Fall der, der die Trends setzt – in Sachen Technik, Handhabbarkeit und Design», sagt der bekannte deutsche Ökonom Achim Wambach. In einem Artikel ruft er die Wettbewerbshüter zum Eingreifen auf, um die dominierende Stellung einzelner Unternehmen in den Internet- und Technologiemärkten aufzubrechen.3Siehe Wambach (2018).

Atrium Ludwig-Erhard-Haus in Berlin. (Adobe Stock)

Das Atrium des Ludwig-Erhard-Hauses in Berlin. (Adobe Stock)

Kampf um die Technologieführerschaft

Mit dieser Sicht steht er zwar in Euckens Tradition. Doch man kann es auch anders sehen – und damit kommt ein berühmter Ökonom ins Spiel, den Eucken als Schriftsteller bezeichnete, was wohl nicht nur schmeichelhaft gemeint war: Joseph Schumpeter. Der Zeitgenosse Euckens sah den Wirtschaftsprozess als Abfolge von Monopolen, die mit neuen Ideen bisherige Marktführer entthronen. Er brauchte dafür die Metapher von der «schöpferischen Zerstörung». Jede Monopolstellung ist somit vorübergehender Natur. Das Modell vom vollständigen Wettbewerb hielt Schumpeter dagegen für wenig realistisch, weil echte wirtschaftliche Dynamik nicht durch gleichmässigen Wettbewerb, sondern durch Innovationssprünge entsteht.

Der Kampf um die Technologieführerschaft charakterisiert somit das heutige Wettbewerbsgeschehen. Unternehmen wie Apple müssen kontinuierlich innovativ sein, denn nur so hält man die Konsumierenden bei der Stange. Sollte Apple stattdessen auf neue Technologien oder bessere Produkte verzichten, nur damit mehr Firmen in den Markt eintreten können und man dem Ideal des vollständigen Wettbewerbs näherkommt? Das wäre absurd.

Folgt man Schumpeter, so empfiehlt sich auch bei der künstlichen Intelligenz, dass der Staat seine «ordnende Potenz» (Eucken) zurückhaltend einsetzt. Die letzten Monate haben gezeigt, dass das Wettrennen um das beste KI-Modell in vollem Gang ist. Dabei stehen nicht nur grosse amerikanische Technologiefirmen miteinander im Wettbewerb. Auch kleinere Unternehmen wie Midjourney (für KI-Bilder), das französische Mistral oder das chinesische Deepseek mischen mit. Deepseek, dessen KI-Modell jeder herunterladen und verändern kann, kommt nach derzeitigem Wissen mit viel geringeren Kosten aus als die amerikanische Konkurrenz. Statt den Markt offen zu halten, haben aber etwa Südkorea und Italien Deepseek vorläufig blockiert.

Wettbewerbsrecht ist die falsche Waffe

Das Internet ist zwar erst seit einem Vierteljahrhundert ein Massenphänomen, aber ganz im Sinne Schumpeters bereits voll mit Beispielen von einst mächtigen Firmen, die untergegangen oder nur noch ein Schatten ihrer selbst sind. Man erinnert sich an Marken wie Nokia, Blackberry, Yahoo, Netscape, AOL, Studi VZ, Myspace – oder Skype: Der Videodienst wird im Mai 2025 eingestellt, womit auch das Verb «skypen» bald aus dem Wortschatz verschwinden dürfte.

Der Wettbewerb bleibt somit das «grossartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte», wie es der Ordoliberale Franz Böhm 1961 ausgedrückt hatte. Aber man muss es neu interpretieren: In der Welt der Tech-Giganten brauchen die Behörden etwas mehr Geduld als früher, denn bis zur Entmachtung dauert es manchmal etwas länger.

Die Machtfrage ist jedoch aus einem anderen Grund wieder aktuell. Die Ordoliberalen hatten in ihrer Zeit vor einer Gesellschaft gewarnt, in der wenige mächtige Akteure dominieren. Deutet der Auflauf der Tech-Unternehmer bei der Vereidigung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump darauf, dass diese Gefahr wieder real ist? Dass Elon Musk das Ohr des amerikanischen Präsidenten hat, sollte jedenfalls alle (Ordo-)Liberalen beunruhigen. Kungeleien zwischen Wirtschaft und Politik höhlen das Vertrauen in die Institutionen aus, weil sich einzelnen Firmen oder Interessengruppen unfaire Vorteile verschaffen können.

Um hier Gegensteuer zu geben, ist das Wettbewerbsrecht jedoch die falsche Waffe. Denn wirtschaftliche Monopolmacht ist gerade nicht das Problem. Musk ist mit Tesla im hart umkämpften Automobilmarkt tätig, wo reger Wettbewerb herrscht. Und mit Space X hat er sogar einen neuen Markt in der Raumfahrt kreiert, der zuvor staatlich dominiert war.

Eucken hat zwar recht, wenn er fordert, dass Wirtschaft und Politik möglichst getrennt sein sollten. Um aber zu verhindern, dass wirtschaftliche Macht zu politischer Macht wird, braucht es Verfassungsregeln, die für Kontrolle und Ausgleich sorgen, sowie Transparenzregeln, um Lobbying und die Finanzierung von Wahlkämpfen ans Licht zu bringen. Es ist zudem stossend, wenn jemand an den Schaltstellen der Macht sitzt, ohne dass er gewählt wurde.

Der Ordoliberalismus bietet zwar nach wie vor einen Kompass für eine verlässliche Wirtschaftspolitik. Deshalb lohnt es sich auch heute noch, Ludwig Erhard und seinen Ideenlieferanten Walter Eucken zu lesen – nicht nur für Mitarbeitende in Wirtschaftsministerien. Aber ein Kompass zeigt nur die grobe Richtung. Wer sich konkret fragt, wie man mit Technologiekonzernen umgehen soll, hält sich dagegen besser an Schumpeters «schöpferische Zerstörung» statt an das vermeintliche Ideal der vollständigen Konkurrenz.

Dieser Beitrag ist im Magazin «Die Volkswirtschaft», Ausgabe 04/25 erschienen.