Hat der Liberalismus noch eine Zukunft?

Wohlstand und Fortschritt sind für eine freie Gesellschaft wichtig. Aber ohne Gemeinsinn, der aus einem individuellen Willen erwächst, fehlt dem Liberalismus der Boden.

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Autor(en): Jürg Müller

«Warum der Liberalismus gescheitert ist.» So lautet der Titel eines 2018 publizierten Bestsellers von Patrick J. Deneen, einem amerikanischen Politologen. Es ist ein Buch, das noch vor rund 30 Jahren undenkbar gewesen wäre. Damals schien der Liberalismus die einzig mögliche Zukunft: Der eiserne Vorhang war gefallen, die freien Demokratien waren auf dem Vormarsch. Wie rasch sich die Zeiten doch ändern können.

Nur drei Jahrzehnte später bedrängt Moskau den Westen wieder militärisch, und die Prinzipien der Aufklärung sind rund um den Globus unter Druck. Das liberale Gesellschaftmodell, noch in den 1990er Jahren zum Sieger im Wettrennen der Systeme gekürt, scheint an Attraktivität eingebüsst zu haben. Was ist bloss passiert?

Das Wichtigste und oft Vergessene zuerst: der Liberalismus ist eine Erfolgsgeschichte. Vor rund dreihundert Jahren haben die europäischen Aufklärer das Individuum aus religiösen und weltlichen Einhegungen befreit. Die daraus entstandenen freien Gesellschaften üben bis heute eine grosse Anziehungskraft aus. Und sie haben eine gewaltige Innovationskraft entwickelt: Die Lebenserwartung stieg an, materielle Entbehrungen wurden weniger und weniger.

Gerade das Fortschrittsversprechen des Liberalismus wird jedoch vermehrt in Frage gestellt. Die Zweifel sind bei den Jungen besonders gross. Laut der letzten Ausgabe des CS-Jugendbarometers sehen weniger als ein Fünftel der Jugendlichen die Zukunft der Gesellschaft zuversichtlich. Wer sich um den Fortbestand freier Gesellschaften sorgt, nimmt solche Bedenken ernst.

Personen in einer Lichterinstallation

Dank des Liberalismus wurden bahnbrechende technologische Innovationen möglich. Seine ideellen Grundlagen bieten ein starkes Fundament, das es zu bewahren gilt. (Adobe Stock)

Eine auf die Schaffung von Wohlstand ausgerichtete Politik ist entsprechend sinnvoll. Sie reicht aber nicht. Und öfter als einem lieb ist, schlägt eine solche Politik in Besitzstandswahrung um, womit dem Liberalismus einen Bärendienst erwiesen wird. Liberale sind deshalb gut beraten, auch die ideellen Grundlagen des Liberalismus zu pflegen – keine leichte Aufgabe.

Schon vor rund einem halben Jahrhundert hielt der deutsche Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde fest: Der liberale Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann. So sei eine freie Gesellschaft auf einen gewissen Gemeinsinn seiner Individuen angewiesen. Liberalismus ist nicht einfach die politische Ideologie des Materiellen, des Hedonismus. Vielmehr funktioniert eine liberale Gesellschaft nur, wenn jede und jeder immer wieder über den eigenen Tellerrand hinausblickt und sich als Teil von etwas Grösserem versteht.

Die Krux dabei: dieser Gemeinsinn kann nicht durch den Staat sichergestellt werden, weil das die individuelle Freiheit und damit die liberale Gesellschaft an sich untergraben würde. Dessen ungeachtet setzen auch gewisse Liberale vermehrt auf staatliche Initiativen. Das ist meist kontraproduktiv. Entgegen dem Zeitgeist heisst mehr Staat nämlich mitnichten mehr Gemeinsinn, und nur zu oft schlagen solche Massnahmen in eine Politik der Besitzstandswahrung für ausgewählte Klientel um – wohl einer der zentralen Gründe, weshalb die Kettensäge-Rhetorik des argentinischen Präsidenten Javier Milei auf so viel Anklang stösst.

Natürlich ist die Schweiz nicht Argentinien. Der Gemeinsinn in einem liberalen Geiste hat hierzulande eine lange Tradition: Das Prinzip der Subsidiarität – also, dass Probleme möglichst auf persönlicher oder lokaler Ebene angepackt werden – ist tief verankert. Und doch hat der Zeitgeist auch in unserem Land Spuren hinterlassen. Zu viele private Akteure beanspruchen mittlerweile öffentliche Gelder für sich. Beispiele finden sich von subventionierten Tourismusbetrieben bis hin zu Mittelschichtsvertretern, die in staatlich vergünstigten Wohnungen leben.

Solche Privilegien für Ausgewählte fallen im Einzelnen nicht immer ins Gewicht. In der Summe schaden sie der liberalen Sache aber gleich doppelt. Erstens verzerren sie Anreize und verringern damit die Schaffung von Wohlstand. Zweitens zersetzen sie nach und nach den Gemeinsinn. Natürlich soll den Ärmsten unter die Arme gegriffen werden. Doch wenn breite Kreise auf Steuergelder schielen und auch erhalten, dann unterspült das die Funktionsfähigkeit einer freien Gesellschaft.

Noch ist Deneens These erst ein knackiger Buchtitel, der Liberalismus ist nicht gescheitert. Doch wer die Zeichen der Zeit liest, sorgt sich zu Recht um seine Zukunft. Dabei darf neben dem Materiellen das Ideelle nicht aus den Augen verloren gehen. Nicht nur Fortschritt und Wohlstand sind zentral. Auch den Gemeinsinn, der aus individuellem Willen erwächst, gilt es zu pflegen. Denn eines ist klar: So erstrebenswert eine liberale Gesellschaft ist, sie ist alles andere als ein Selbstläufer.

Dieser Beitrag ist in der «NZZ am Sonntag» vom 28. Dezember 2024 erschienen.

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