Mitte Mai tritt Jérôme Cosandey einen neuen Job an. Er wird Leiter der Direktion für Arbeit und Mitglied des Geschäftsleitungsausschusses des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Der Neuenburger beendet damit sein langjähriges Engagement als Forschungsleiter Sozialpolitik der Denkfabrik Avenir Suisse – ein guter Moment für ein Résumé über die private und berufliche Vorsorge in der Schweiz.
Finanz und Wirtschaft: Herr Cosandey, Ihr Fazit nach vierzehn Jahren Forschung im Bereich Sozialpolitik – wie stabil und zeitgemäss ist das Schweizer Drei-Säulen-System noch?
Jérôme Cosandey: Dessen Resilienz ist beeindruckend. Das System ist nicht aus dem Lot geraten, trotz Finanz- und dann Eurokrise, Covid-Pandemie und zuletzt dem Ukrainekrieg. Trotz dieser Verwerfungen werden die Renten jeden Monat bezahlt. Die drei Säulen verteilen die Risiken, das ist ein grosser Vorteil. Die AHV, im Umlageverfahren, ist zwar von der Schweizer Konjunktur, also der Lohnmasse und dem Steueraufkommen, abhängig. Doch die Anlagen in die zweite und dritte Säule werden über die internationalen Kapitalmärkte diversifiziert. Nur auf eine Säule zu setzen, wäre falsch.
Wird der Zweck der Altersvorsorge erfüllt?
Das erste Ziel ist es, Altersarmut zu verhindern. Im Unterschied zu 1948, als die AHV eingeführt wurde, wird dies heute für die grosse Mehrheit der Bevölkerung erreicht. Zweitens soll das Ersatzeinkommen gesichert werden. In der AHV ist die Minimalrente seit 1980 teuerungsbereinigt um ungefähr 40% gewachsen. In der zweiten Säule sind die Leistungen stabil, wenn man die Kapitalbezüge berücksichtigt, obwohl wir länger Rente beziehen. Und mehr als jeder zweite Neurentner hat eine dritte Säule. Das zeigt, dass sie nicht bloss ein Instrument zur Steueroptimierung für Wohlhabende darstellt.
Wie liesse sich das System trotzdem verbessern bzw. flexibilisieren?
In der letzten AHV-Reform sind flexible Elemente für die Versicherten eingebaut worden. Man kann eine Teilrente beziehen oder einfacher früher oder später in Rente gehen. Bei der zweiten Säule war das schon möglich. Dort plädieren wir dafür, dass Versicherte mehr Mitsprache bei der Wahl der Anlagestrategie oder der Pensionskasse erhalten. Aber auch die Vorsorgeeinrichtungen sind flexibler geworden. Neun von zehn Kassen haben die Hausaufgaben gemacht. Zum einen haben sie die Absicherung von Teilzeitangestellten verbessert. Zum anderen haben sie den Umwandlungssatz korrigiert, um die systemwidrige Quersubventionierung von Jung zu Alt zu reduzieren.
Die letzte Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) ist 2024 an der Urne abgeschmettert worden. War das also kein grosses Unglück?
Nun, es gibt immer noch etwa 15% der Arbeitnehmer, die in einer BVG-Kasse ohne überobligatorischen Teil versichert sind. Das ist unschön, weil diese Kassen gesetzliche Leistungen garantieren müssen, die mit realitätsfremden Parametern bestimmt sind. Doch ihre Zahl sinkt, weil es sich immer weniger Arbeitgeber mit Blick auf den Fachkräftemangel leisten können, nur eine reine BVG-Lösung anzubieten. Ich gehe davon aus, dass in einigen Jahren 95% der Pensionskassen auch einen überobligatorischen Teil versichern. Dann stellt sich die Frage, wie teuer eine Reform noch werden darf. Deshalb wird politisch in den kommenden Jahren nicht viel laufen.
Doch im Entlastungspaket zu den Bundesfinanzen ist ein Vorschlag enthalten, die steuerliche Bevorzugung von Rentenbezügen in der zweiten Säule zu reduzieren.
Beim Entscheid, Rente oder Kapital zu beziehen, sollten steuerliche Überlegungen keine Rolle spielen. Werden nun die Spielregeln geändert, braucht es Übergangsregelungen. Das Problem dabei ist, dass der Bund schon 2027 Zusatzeinnahmen braucht.
In der AHV ist der Korrekturbedarf am grössten. Bis im Sommer will die zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ein umfassendes Reformpaket zur Stabilisierung der ersten Säule bis 2040 vorlegen, und zwar «ohne Tabus». Welche Elemente müsste das Projekt «AHV 2030» enthalten?
Eine Erhöhung des Rentenalters sollte Teil der Lösung sein. Sie schont die Generationengerechtigkeit und wirkt doppelt: Man zahlt länger ein und bezieht weniger lang, als wenn das Rentenalter bei 65 bleibt. Wir könnten zum Beispiel die Hälfte der Lebenserwartung, die wir gewinnen, in Rente geniessen, die andere Hälfte länger arbeiten.
Aber was ist mit physisch anstrengenden Berufen?
Man könnte die Anzahl Beitragsjahre berücksichtigen, und damit den Personen, die früh in den Arbeitsmarkt eintreten und oft schwere Tätigkeiten ausüben, eine frühere Pension ermöglichen. Wobei der Fokus auf die physische Belastung seine Tücken hat. Jede zweite neue Rente in der Invalidenversicherung ist heute psychisch bedingt.
Eine Erhöhung des Rentenalters wurde vor eineinhalb Jahren klar abgelehnt. Hat sie eine Chance?
Warum genau sie abgelehnt wurde, ist schwierig zu beurteilen. Skandinavische Länder wie Schweden oder Dänemark, die für ihren ausgebauten Sozialstaat bekannt sind, haben das Rentenalter erhöht. Trotzdem geniesst dort jede Generation im Durchschnitt länger Rente als die vorherige. Ein höheres Rentenalter wäre nur ein Teil der Massnahmen, um die AHV längerfristig zu sichern. Dazu braucht es Mehreinnahmen: über die Mehrwertsteuer oder Lohnbeiträge, wobei Letztere die Arbeit verteuern. Ein drittes Element wäre eine Angleichung der Witwen- an die Witwerleistungen gemäss dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg.
Reichen diese drei Elemente wirklich, um die AHV bis 2040 zu sichern?
Der aktuelle Vorschlag zur Anpassung der Witwenrente bewirkt Einsparungen von 350 Mio. Fr. pro Jahr. Eine Erhöhung des Rentenalters um ein Jahr würde etwa 3 Mrd. Fr. bringen. Hier braucht es eine faire, nicht zu teure Lösung für die Übergangsgeneration. Ergänzend sind die erwähnten Mehreinnahmen notwendig. Ohne diesen Dreiklang geht die Rechnung nicht auf.
Und eine Steuer auf Finanztransaktionen, wie sie immer wieder gefordert wird?
Eine Steuer sollte stabile Einnahmen sichern. In diesem Fall würden sie wegen Ausweichmanövern sinken, sodass man den Steuersatz ständig erhöhen müsste, um das Niveau aufrechtzuerhalten. Das führt zu einem Teufelskreis.
Eine AHV-spezifische Erbschaftssteuer?
Das ist keine gute Idee. Sie würde den Anteil der zweckgebundenen Einnahmen im Bundeshaushalt weiter erhöhen. Man nimmt damit dem Parlament einen Teil der Budgetkompetenz weg. Eine wichtige Rolle der Politik ist ja, am Jahresende die Prioritäten neu zu setzen.
Müssten die Leute nicht auch mehr motiviert werden, länger zu arbeiten?
Der grösste Hebel, dass die Leute länger arbeiten, liegt bei den Unternehmen. Dazu braucht es Wertschätzung, einen sinnvollen Job und Teilzeitmöglichkeiten, wie Umfragen ergeben haben. Die Unternehmen tun noch wenig, um das Potenzial älterer Mitarbeiter zu nutzen. Dabei ist ein 66-Jähriger mit einem Medianlohn etwa 8% günstiger für den Arbeitgeber als ein 55-Jähriger. Für die Arbeitnehmer gibt es schon Anreize. Ab 65 beginnt die AHV-Pflicht erst ab einem Monatsverdienst von 1400 Fr. Die berufliche Vorsorge ist freiwillig, und Abzüge für die Arbeitslosenversicherung gibt es nicht mehr.
Braucht es nicht mehr Mathematik statt Ideologie im Vorsorgesystem?
In der beruflichen Vorsorge arbeiten 1300 Kassen mit unterschiedlichem Profil. Die Stärke des dezentralen Systems liegt in spezifischen sozialpartnerschaftlichen Lösungen, die der finanziellen Situation der Unternehmen Rechnung tragen. Die Kassen können nicht über ihre Verhältnisse leben, eine Unterdeckung ruft sofort die Aufsicht auf den Plan. Ende 2024 lag der Deckungsgrad im Durchschnitt bei ungefähr 120%. Obschon wir länger leben, ist ein Puffer vorhanden.
In der AHV jedoch nicht.
Bei der AHV ist die Zeche noch nicht bezahlt. Das Problem ist nicht nur die 13. AHV-Rente. Auch die ersten zwölf Renten muss man bezahlen. Manchmal gleichen die Diskussionen einem Familienessen im Restaurant, an dem man sich nur darüber streitet, wer den Espresso bezahlen soll, während man die Bezahlung von Vorspeise, Hauptgang und Dessert vergisst.
Was halten Sie von einer Schuldenbremse für die AHV?
Das Gesetz sieht einen Mechanismus im Fall einer Unterdeckung des AHV-Fonds vor, aber er ist vage formuliert. Man könnte die Vorgabe schärfen. Zum Beispiel, wenn ein Schwellenwert im Fonds unterschritten wird, hat die Politik eine vorgegebene Zeit zur Verfügung, um zu reagieren. Sonst werden automatisch das Rentenalter oder die Lohnbeiträge erhöht.
Ist es mittlerweile nicht so, dass die Renten aus der ersten und zweiten Säule den letztbezahlten Lohn häufig nicht einmal zu 60% decken?
Wir haben monatelang versucht, die Ersatzquote zu schätzen. Es beginnt schon mit der Frage: Welches war das letzte Einkommen? Was, wenn jemand während der letzten vier Jahre nur noch 60% gearbeitet hat? Die Ersatzquote ist gemäss einer Modellrechnung von Swisscanto seit sechs Jahren relativ stabil bei 70% geblieben – die Vorgaben der Bundesverfassung sind also in der Theorie erfüllt. Aber gibt es Pausen im Erwerbsleben, fehlt in der Praxis Kapital.
Müsste die freiwillige Vorsorge, die dritte Säule, deshalb mehr gefördert werden?
Mit der Umsetzung der Motion Ettlin ist es nun möglich, Lücken von Jahren, in denen man nicht voll einbezahlt hat, nachträglich zu füllen. Noch besser wäre es gewesen, auch Jahre ohne Einkommen, zum Beispiel für eine Babypause, nachholen zu können. Den Maximalbetrag würde ich nicht erhöhen, davon würden nur wenige profitieren.
Reichen die drei Säulen für ein unbeschwertes Leben im Alter?
Früher gab es auf den Berner Bauernhöfen das «Stöckli», ein Nebenhaus, in das sich die Grosseltern zurückzogen. Damals hat man die Altersvorsorge ganzheitlich betrachtet, auch die Pflege im Alter war Bestandteil des «Generationenvertrags». Unterdessen sind wir von dieser Altersvorsorge bis zum Lebensende weggekommen. Den zu Beginn erwähnten Diversifikationseffekt sollten wir auch in die Finanzierung der Langzeitpflege einbringen, und zwar über ein Kapitaldeckungsverfahren wie in der zweiten und dritten Säule. Jeder zahlt monatlich Geld auf ein Sperrkonto ein. Dieses Kapital wird angezapft, sobald man Spitex braucht oder ins Pflegeheim geht. Auf der anderen Seite könnten die Beiträge von den Steuern abgezogen werden.
Wird dann nicht der Vorwurf erhoben, eine Zweiklassenmedizin zu schaffen?
Wer zahlen kann, soll es tun. Wer nicht, wird von der Beitragspflicht befreit. Dann kommt subsidiär die Solidarität durch die Allgemeinheit zum Tragen, ähnlich wie bei den Ergänzungsleistungen in der AHV. Jedem soll ein Alter in Würde ermöglicht werden.
Dieses Interview wurde von Arno Schmocker geführt und ist am 25. April 2025 in der «Finanz und Wirtschaft» erschienen.