- Kurzfristig setzt die Absetzbewegung aus dem Euro wieder ein und verstärkt den Aufwertungsdruck auf den Schweizer Franken. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) wird darauf mit weiteren Interventionen am Devisenmarkt reagieren und – sollte der Druck länger anhalten – allenfalls mit einer weiteren Absenkung der Zinsen in noch tieferes negatives Terrain. Dies würde zu einer weiteren Erosion der Ertragskraft der Banken führen und Versicherungen und Pensionskassen noch mehr in Verlegenheit bringen. Den Banken würde das Zinsdifferenzgeschäft weiter erschwert. Die Bilanzen der Versicherungen würden noch stärker durch aufgeblähte Obligationenkurse strapaziert. Die erzielbaren Renditen der Pensionskassen würden weiter sinken, was die Umverteilung von Jung zu Alt verstärkte.
- In nächster Zeit wird sich die EU mit dem Austritt Grossbritanniens und mit sich selbst beschäftigen. Die Schweizer Anliegen (Zuwanderung, institutioneller Überbau, weitere Abkommen) werden in Brüssel auf der Prioritätenliste weiter nach unten rutschen. Die EU wird alles daran setzen, eine mögliche Ansteckungsgefahr auf andere kritische Länder einzudämmen. Aus ihrer Sicht kann ein Drittstaat wie die Schweiz nicht mehr Privilegien als ein Mitglied einfordern, da dies als Ermunterung zum Austritt verstanden werden könnte. Eine «EU à la carte» wird Brüssel unter allen Umständen verhindern wollen. Es ist davon auszugehend, dass die Schweiz bis auf weiteres keine Zugeständnisse in der Zuwanderungsfrage erwarten kann. Insbesondere wird die EU keinen Inländervorrang akzeptieren, denn ein solcher wäre aus ihrer Sicht diskriminierend und träfe den Kern der Personenfreizügigkeit.
- Mittelfristig wird die Europäische Union in eine Phase institutioneller und politischer Instabilität und wirtschaftlicher Unsicherheit eintreten. Obwohl politisch ausserhalb der EU, ist die Schweiz ökonomisch mehr mit der Union verflochten als die EU-Länder selbst. Sie hat darum von der institutionellen Stabilität, die die EU bisher geboten hat, trotz aller Probleme profitiert. Die neue Unsicherheit trifft den Finanzsektor stärker als die übrige Wirtschaft, denn die dadurch ausgelösten Investitionshemmnisse reduzieren die grenzüberschreitenden Kapitalströme. Das wird die Wachstumsperspektiven der Schweiz negativ tangieren, möglicherweise stärker als in vielen EU-Ländern.
- Die Entscheidung Grossbritanniens muss im Kontext der zu beobachtenden nationalistischen Strömungen verstanden werden. Nationale Interessen werden über kollektive gestellt, und grosse Länder haben mehr Mittel als kleine, ihre Interessen durchzusetzen. Die ökonomischen Vorteile offener Grenzen werden einem protektionistischen Reflex geopfert. Für die Schweiz als kleines Land, das wie kaum ein zweites von der Globalisierung profitiert hat, ist diese Entwicklung besonders nachteilig.
Vertrauenskrise der Eliten
Die Art des Abstimmungskampfes und die Austrittsentscheidung bezeugen die Notwendigkeit, dass die politischen und wirtschaftlichen Verantwortungsträger in unseren westlichen Demokratien verstärkt in der Verantwortung stehen, die Gesellschaften in ihrer Breite von den Vorteilen der Globalisierungskräfte zu überzeugen und beim Einzelnen positiv spürbar zu machen. Vielerorts hat man es verpasst, die positiven Verteilungswirkungen zu thematisieren.
Im Falle der EU kommt man nicht umhin, von einer Krise der politischen Eliten zu sprechen, denen ein steigender Anteil der Bevölkerung zunehmend misstraut. In der Folge ist ein wachsender Teil der Menschen immer weniger mit sachlichen und vernünftigen Argumenten erreichbar. In der öffentlichen Diskussion werden Fakten über wirtschaftliche Zusammenhänge teilweise verdreht oder ganz ausgeblendet. Es entsteht eine scheinbare Beliebigkeit der Argumente, die populistischen Haltungen Vorschub leistet. Als halbdirekte Demokratie, die ihren hohen Wohlstand zu einem grossen Teil der Globalisierung verdankt, ist die Schweiz besonders darauf angewiesen, dass sich eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf Basis sachlicher Argumente entscheidet und nicht aus dem Bauch heraus.
Heute ist noch nicht absehbar, was der «Brexit» mittel- bis langfristig für die Position der Schweiz im europäischen Konzert bedeutet. Die zwei Extremszenarien für die EU sind:
- Die vielleicht noch weiter dezimierte Rest-EU um Deutschland und Frankreich rückt noch enger zusammen, vertieft den Binnenmarkt und entwickelt sich in Richtung eines Bundesstaates mit Ausgleichsmechanismen.
- Die EU schafft mehr Flexibilität und entwickelt sich von einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten zu einem Europa der variablen Geometrie, das den Mitgliedern mehr politische und wirtschaftliche Freiheiten belässt. Sie haben die Möglichkeit, an weiteren Integrationsschritten teilzunehmen und oder nicht. Das Projekt der ever deepening union wird begraben.
Falls sich Europa in Richtung des zweiten Szenarios bewegt, böte dies die grosse Chance für die Schweiz, ihr ungeklärtes Verhältnis mit der EU nachhaltig zu regeln, indem sie eine schwache politische, dafür aber eine tiefe ökonomische Integration wählt.
Folgerungen für die Schweiz
- Die Bilateralen Verträge mit der EU sind noch wichtiger geworden und sollten auf jeden Fall erhalten werden. Der Verlust des bevorzugten Zugangs zum EU-Binnenmarkt durch eine Kündigung oder das Aussetzen der Verträge würde die Unsicherheit weiter erhöhen und die Investitionsbereitschaft in der Schweiz schädigen. Dies schlüge sich mittelfristig auf Beschäftigung, Löhne und damit den Wohlstand nieder.
- Die Schweiz oder die EFTA sollten mit Grossbritannien möglichst rasch ein umfassendes Freihandelsabkommen aushandeln. Dies wird auch im Interesse Grossbritanniens sein, fallen doch im Moment des formellen EU-Austritts alle zwischen der EU und Drittstaaten geschlossenen Abkommen für Grossbritannien dahin.
- Der Marktzugang in den EU-Binnenmarkt ist essenziell und muss erhalten, in einzelnen Bereichen gar ausgebaut werden, um die Wettbewerbsnachteile für Schweizer Unternehmen möglichst gering zu halten.
- Innenpolitisch sollte die Schweiz ihre Energien mehr als bisher darauf konzentrieren, die Zuwanderungsfrage selbst anzugehen und zu lösen. Dass dies möglich ist, hat Avenir Suisse schon im Frühjahr 2014 («Globalziel statt Kontingente») aufgezeigt.
- Die Personenfreizügigkeit ist im Kern zu erhalten, denn sie liegt im Interesse der Schweiz. Zentrale Steuerungsinstrumente in Form mengenmässiger Beschränkungen (Kontingente, Höchstzahlen) führen zu einem politischen Verteilkampf und zu schädlicher Strukturerhaltung. Die Schweiz kann den Zuwanderungssog aber innenpolitisch dämpfen, z.B. mit der Redimensionierung der steigenden Ansprüche im Gesundheitswesen und Effizienzsteigerungen in der Pflege sowie mit dem Abbau von Hürden bei der Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmer/-innen. Das Instrument hierfür ist ein langfristiges und verbindliches Globalziel (10 J.) für den Migrationssaldo, das die Schweiz autonom beschliessen kann.
- Sollten sich Verdrängungserscheinungen auf dem Arbeitsmarkt zeigen, wäre auch ein sanfter Inländervorrang wie die zwingende Meldung offener Stellen bei den regionalen Arbeitsvermittlungen denkbar. Ein «harter» Inländervorrang wäre wenig effektiv, dem Staat und den Unternehmen würde er aber hohe Bürokratiekosten auferlegen. Eine Alternative bestünde in einer freiwilligen Abgabe der Unternehmen im Rahmen einer Selbstregulierung auf Branchenebene, deren Ertrag in die Berufsbildung fliessen oder an die Unternehmen zurückerstattet werden könnte.
- Viele Symptome, die der Zuwanderung zugeschrieben werden (steigende Mieten, Staus, überfüllte Züge), sind in Wirklichkeit ebenso die Folge schlechter Regulierung oder fehlender Kostenwahrheit. Hier wären eine «flankierende Deregulierung», z.B. beim Bau- und Mietrecht, und die Einführung von Mobility Pricing im Verkehr angezeigt.
- Die Institutionen und Regulationen sind auf eine verlängerte Negativzinsphase auszurichten. Dies bedingt unter anderem
- die nominale Garantie bestehender Altersrenten im BVG abzuschaffen;
- die Mindestverzinsung und den Umwandlungssatz im BVG zu entpolitisieren.
- Aussenpolitisch muss die Schweiz verstärkt gegen den Strom schwimmen und sich für Offenheit, stabile internationale Institutionen und sachbezogene Argumente einsetzen. Die halbdirekte Demokratie und echter Föderalismus könnten auch ein wegweisendes Modell einer partizipativeren Gesellschaft sein, die die Vertrauenskrise von Teilen der Bevölkerung gegenüber den Eliten zu überwinden hilft.