Was haben UN-Generalsekretär Guterres, Bundeskanzler Scholz und der russische Präsident Putin gemeinsam? Alle drei haben jüngst einer «multipolaren» Welt das Wort geredet. In diesem Zusammenhang wird auch die jüngste Erweiterung der Brics-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika um Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate, genannt. Sie wird als Zeichen einer multipolaren Weltordnung gedeutet – dies im Gegensatz zu einer von den USA dominierten unipolaren Welt. Doch trifft es wirklich zu, dass wir uns in einer neuen multipolaren Welt befinden? Und wie sollte sich die Schweiz verhalten?

Mythos Multipolarität

Von Multipolarität spricht man, wenn das Machtpotenzial von drei oder mehr Ländern ähnlich ist und das der anderen deutlich übersteigt. Die Machtverteilung zwischen Staaten hat einen entscheidenden Einfluss auf die Dynamik der internationalen Beziehungen und auf mögliche Konflikte. Die Auflösung der Sowjetunion war die letzte grosse geopolitische Zäsur, denn sie bedeutete das Ende der bipolaren Weltordnung. Infolgedessen erlangte die USA eine Vormachtstellung.

Über die vergangenen Jahre haben derweil die nicht-westlichen Staaten ein neues Selbstbewusstsein entwickelt. Auf dem letzten Brics-Gipfel in Südafrika im Sommer 2023 wurde die Aufnahme weiterer Länder angekündigt und das neue Konstrukt als Brics+ bezeichnet. Das Forum expandiert dabei auf einem dezidiert nicht-westlichen Kurs. Sanktionierte Länder wie der Iran sind willkommen. Und das geächtete Russland bekommt eine Bühne, um gegen den Westen zu wettern. Diese Dynamik soll zeigen, dass hier ein weiterer Machtpol entsteht.

Doch wie sieht es jenseits der Rhetorik aus?

Tatsächlich war das Wirtschaftswachstum der Brics in den letzten Jahren bemerkenswert. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass das starke Wachstum vor allem von China getragen wurde (vgl. Grafik). Die anderen Staaten haben sich vergleichsweise enttäuschend entwickelt und liegen bei der Wirtschaftskraft weit hinter dem Reich der Mitte. Auch in Bezug auf Regierungsform, Grösse, Beziehungen zum Westen etc. sind die Brics durch eine grosse Heterogenität gekennzeichnet. Aus diesem Grund ist die Zusammenarbeit der Brics sehr selektiv und von divergierenden Interessen geprägt («forum shopping»[1]).

Der Beitritt weiterer Staaten hat die Divergenzen verschärft. Denn bereits die bisherigen Mitglieder China und Indien verbindet alles andere als eine tiefe Freundschaft – beispielsweise gibt es Differenzen wegen ungelöster Territorialfragen. Auch die neuen Mitglieder sind sich nicht alle wohlgesonnen. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die nach jahrzehntelanger Feindschaft vor kurzem wieder aufgenommen wurden, befinden sich noch im Anfangsstadium.

Auch der antiwestliche Kurs wird nicht von allen Mitgliedern getragen. Mehrere Staaten wollen es sich nicht mit den USA zugunsten dieses Forums verderben. Beispielsweise sind Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate wichtige sicherheitspolitische Partner der USA. So scheinen die erweiterten Brics nur auf den ersten Blick eine Art Alternative zu den westlich dominierten internationalen Foren zu sein. Gleichzeitig agieren sie aber auch immer wieder in Kooperation mit westlichen Staaten.

Vor diesem Hintergrund ist klar: Die Brics werden als Organisation keinen Pol bilden. Diese Rolle könnte allenfalls China alleine zufallen, das nebst den USA als einziger Staat das Zeug zum Pol hat. Unabhängig davon, ob man wirtschaftliche und militärische Faktoren oder Verteidigungsausgaben und technologische Indikatoren heranzieht, gibt es keine dritte Kraft, die diesen beiden auch nur annährend das Wasser reichen könnte. Auch wenn die Struktur nicht mehr so eindeutig ist wie zu Zeiten des Kalten Krieges, so rangieren mögliche Kandidaten wie Russland (wirtschaftlich zu schwach), Indien (militärisch zu schwach) und die EU (zu uneinig) deutlich abgeschlagen.

Die Macht des Diskurses

Es ist daher nahezu ausgeschlossen, dass sich die Brics zu einem dezidiert westfeindlichen Machtblock entwickeln. Das Abschlusskommuniqué des Brics-Gipfels in Johannesburg unterstreicht sogar die Bedeutung von Freihandel und Public-Private-Partnerships – das könnte auch in einer G7-Erklärung stehen. Es ist aber durchaus zu beobachten, dass sich viele Schwellen- und Entwicklungsländer schlicht an ihren Interessen orientieren und sich zunehmend zwischen den Grossmächten positionieren, eine Verhaltensweise die sich in Südostasien schon länger beobachten lässt.

Die Zeiten, in denen der Westen anderen Staaten ohne Weiteres Vorgaben machen konnte, sind deshalb vorbei. Vor diesem Hintergrund ist es wohl notwendig, die eigene Wahrnehmung etwas auszutarieren. Dazu reicht ein Blick auf Google Trends: Die Berichterstattung zum Thema Brics war deutlich breiter als in den Vorjahren. Ein Grund dafür dürfte neben der Erweiterung auch die Ablehnung der Sanktionen im Ukrainekrieg durch viele Staaten des «globalen Südens» sein.

Nebst «forum shopping» ist es vor allem die Entwicklung gemeinsamer Narrative, die den Zusammenhalt der Brics sichert. Der einst von Goldman Sachs prognostizierte wirtschaftliche Aufstieg (und die damit erst verbundene Schaffung des Akronyms «Brics») ist mit Ausnahme Chinas bis jetzt nicht eingetreten. Das Narrativ der «rising powers» rückt daher zunehmend in den Hintergrund, während jenes einer multipolaren, postwestlichen Welt Auftrieb erhält. Insbesondere China kann sich so ein «multipolares Mäntelchen» umhängen, obwohl es konsequent seine eigenen Interessen vertritt.

Die Spannungen zwischen westlichen Staaten und einigen Brics-Mitgliedern führen dazu, dass sich immer mehr Entwicklungsländer an den Brics orientieren und diese sich zunehmend als Stimme des globalen Südens konsolidieren. Dies erklärt die Attraktivität der Brics: In der Gruppe erhoffen sich viele Schutz vor den Auswirkungen von Sanktionsregimen und Protektionismus. Die diffuse Ablehnung westlicher Dominanz bleibt dann aber auch die einzige grosse Gemeinsamkeit.

Eine Schweizer Brics-Strategie?

Das Thema Brics rückt auch zunehmend in den Fokus der Schweizer Politik. So hat die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates (APK-N) den Bundesrat beauftragt, einen Bericht über den möglichen Einfluss der Brics auf die Weltordnung zu erstellen. Darin soll der Bundesrat erläutern, mit welcher Strategie er den Brics als Staatengruppe begegnen will. Bereits in der Aussenpolitischen Strategie wird die Befürchtung geäussert, die Brics könnte die bestehende Ordnung weiter unter Druck setzen und zu einer Fragmentierung der internationalen Gouvernanz beitragen.

Die Schweiz tut sicher gut daran, diese Entwicklungen im Auge zu behalten. Viele der Brics haben eine junge Bevölkerung und eine aufstrebende Wirtschaft, was für die Schweizer Exportindustrie gerade mittelfristig von grosser Bedeutung sein dürfte. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Heterogenität sollte die Schweiz ihre Aussen(wirtschafts)politik aber nicht strategisch auf das Forum Brics ausrichten. Solange multilaterale Lösungen nicht möglich sind, ist es viel wichtiger, ausgewählte einzelne Länder unabhängig von ihrer Brics-Mitgliedschaft als Partner zu gewinnen und in das Schweizer Aussenbeziehungsnetz einzubinden.

[1] Beim «forum shopping» wählen Staaten gemäss ihren Interessen innerhalb eines internationalen Forums oder Organisation gezielte Kooperationsmöglichkeiten aus.