Die erste bestätigte Corona-Infektion verzeichnete die Schweiz am 25. Februar. Schon wenige Tage darauf verbot der Bundesrat Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen. Ab da stieg die Zahl der Neuinfektionen im Schnitt täglich um ziemlich genau einen Drittel, was einer Verzehnfachung der täglichen Fälle innert 8 Tagen oder einer Verdoppelung in weniger als zweieinhalb Tagen entspricht. Die Schweiz verzeichnete klassisches exponentielles Wachstum. Am 13. März verbot der Bundesrat den Präsenzunterricht in den Schulen, Veranstaltungen mit über 100 Personen, und Bars, Restaurants, Clubs durften nur noch 50 Gäste gleichzeitig aufnehmen. An der Wachstumsrate änderte sich vorerst nicht viel.

Am 16. März zog der Bundesrat dann die Reissleine und ordnete den eigentlichen Lockdown an. Interessanterweise genau 5 Tage später (in etwa die Dauer der Inkubationszeit), am 21. März, endete das bisher konstante exponentielle Wachstum abrupt, wie man gut in der logarithmischen Darstellung (schwarze Punkte) von Abbildung 1 sieht. Die Zunahme der täglichen Infektionen verlangsamte sich also nicht einfach, sondern stoppte sofort, und bald nahm die Zahl der bestätigten Neuinfektionen sogar deutlich ab (besser sichtbar anhand der roten Säulen in der linearen Skala der Abbildung 1). In den letzten zwei Wochen pendelte sie zwischen 200 und 300 Personen pro Tag.

Übersterblichkeit

In der Schweiz sind gemäss Auskunft der Kantone bisher 1615 Personen an Covid-19 gestorben (Stand: 27.4.2020). In der wöchentlichen Todesfallstatistik des BFS (vgl. Abbildung 2) treten diese deutlich in Erscheinung. Die Abweichung von den üblichen Gesamtmortalitätsquoten war jedoch (dank der ergriffenen Massnahmen) nicht viel stärker als bei normalen Grippewellen.

Es wird in den nächsten Wochen interessant sein zu sehen, ob diese Zahlen zur Übersterblichkeit mit den genannten Covid-Opferzahlen übereinstimmen. Bis jetzt ist höchstens eine kleine, nicht auffällige «Lücke» zwischen Übersterblichkeit und Toten durch Covid zu beobachten. Eine grössere Lücke wäre ein Hinweis auf die «Kollateralschäden» des Virus oder der Lockdown-Massnahmen zu dessen Eindämmung. So werden aufgrund der Krisensituation andere medizinische Behandlungen teilweise aufgeschoben oder Personen suchten auch bei ernsten Symptomen keinen Arzt mehr auf. Es ist auch nicht auszuschliessen, dass es stressbedingt zu mehr Todesfällen durch Herz-Kreislauf-Vorkommnisse oder gar zu Suiziden kommt.

Demografie

Abbildung 3 zeigt die Demografie der Covid-Fälle. Die Verteilung der bestätigten Infektionen ähnelt (abgesehen von den ältesten und jüngsten Jahrgängen) der Bevölkerungspyramide, wobei bedacht werden muss, dass leicht Erkrankte bis heute nur getestet und damit registriert werden, wenn sie einer Risikogruppe angehören. Insofern dürften die Fallzahlen in den tieferen Alterskategorien deutlich stärker unterschätzt sein als in den höheren. Bei den Hospitalisierungen zeigt sich eine deutliche Dominanz der älteren Jahrgänge, die sich bei den Todesfällen noch akzentuiert: Für unter-50-Jährige mit Covid-Diagnose liegt die Sterblichkeit unter 1 Promille und steigt dann bei älteren Jahrgängen deutlich an. Bei den über 80-Jährigen erreicht sie 24%. Von den 1337 vom BAG erfassten Todesfällen (Stand: 26.4.2020) war der Grossteil, nämlich 925, über 80 Jahre alt. Gar 1207 (also 90%) waren über 70 Jahre alt.

Von einem bemerkenswerten Fakt war bisher kaum die Rede: Bei den über 80-Jährigen liegt die Zahl der Todesfälle nur wenig unter der Zahl jener, bei denen eine Hospitalisierung nötig war oder ist: Genau genommen liegt sie bei 86% der Hospitalisierten. Nun heisst das zwar nicht, dass 86% der Hospitalisierten gestorben sind, denn einige Covid-Patienten verstarben auch im Pflegeheim, ohne je hospitalisiert gewesen zu sein. Schätzt man diesen Anteil auf 25%, so resultiert aber für die über 80-jährigen Hospitalisierten – trotz bedarfsgerechter Behandlung – immer noch eine Sterblichkeit von 64%.

Das hat einen erheblichen Einfluss auf die Auswirkungen von in der Schweiz glücklicherweise nicht nötig gewordenen Bettenrationierungen: Läge diese Quote z.B. bloss bei 20%, so würde ein Behandlungsverzicht bei der betroffenen Gruppe zu einer Verfünffachung der Opferzahlen führen. Bei der Quote von 64% hätte eine derartige Rationierung der Intensivpflegestationen (Rückgang des Bettenbedarfs um 30%) hingegen zu einem viel geringeren Anstieg um 42% in dieser Altersklasse und um 29% über alle Altersklassen geführt.

Deutlich anders sieht es bei den 70- bis 79-Jährigen aus: In dieser Altersklasse starben höchstens 31% der Hospitalisierten; hier hätte also eine fehlende Spitalbehandlung (unter der pessimistischen Annahme, dass diese bei allen Hospitalisierten lebensnotwendig war) zu mehr als einer Verdreifachung der Opferzahlen geführt. Gesamthaft hätte eine Rationierung ab 70 Jahren den Bettenbedarf um 55% gesenkt und zu einer Zunahme der Opferzahl um 72% geführt.

Die Altersverteilung der schweizerischen Todesopfer gleicht jener anderer Länder. Das Medianalter der Todesfälle liegt derzeit bei 84 Jahren. Das entspricht genau der aktuellen Lebenserwartung in der Schweiz. Es würde allerdings von «statistischer Naivität» zeugen, daraus zu schliessen, Covid führe zu keiner Verringerung der Lebenserwartung:[i] Auf Basis der demografischen Verteilung der Todesfälle und ihrer statistischen Restlebenserwartung gemäss BFS ohne Covid ergibt sich vielmehr eine durchschnittliche Einbusse von 8,6 Lebensjahren. Diese Rechnung geht allerdings davon aus, dass die Verstorbenen den gleichen Gesundheitszustand hatten wie der statistische Durchschnitt ihrer Altersklasse. Das ist unplausibel: Es ist vielmehr davon auszugehen, dass z.B. jene 24% Todesopfer unter den über 80-jährigen Erkrankten oder jene 2,8% Todesopfer unter den 60- bis 69-jährigen Erkrankten im Vergleich zu ihren überlebenden Altersgenossen einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand aufwiesen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass 97% der Verstorbenen an einer oder mehreren Vorerkrankungen gelitten hatten. Eine Halbierung dieser statistischen Restlebenserwartung ohne Covid auf 4,3 Jahre scheint darum plausibel. So kommt man auf 5750 Lebensjahre, die das Virus bisher direkt gefordert hat. 

Ein Blick in die Zukunft

Und mit wie vielen Todesopfern haben wir in unserer (Lockdown-) Realität noch zu rechnen? Eine gute Einschätzung erlaubt das Modell des Schweizer Epidemiologen Christian Althaus. Bei der Zahl der täglichen Todesopfer haben wir den Höhepunkt vor drei bis vier Wochen überschritten. Gelingt es, die Ansteckungsrate auf dem heutigen Niveau (unter 1) zu halten, werden die Zahlen weiter sinken. Angenommen, die Zahl der täglichen Todesfälle sinke in den nächsten Monaten auf 10 und noch später auf 5 (derzeit sind es ca. 20, das Maximum lag etwa bei 60), so würden an Covid-19, bis nächstes Jahr hoffentlich ein Impfstoff verfügbar ist, insgesamt etwa 3000-5000 Personen sterben.[ii] Angesichts der berechneten Restlebenserwartung von durchschnittlich 4,3 Jahren, die diese Personen ohne Covid-Erkrankung gehabt hätten, resultieren daraus 17’200 verlorene Lebensjahre. 

Kosten und Nutzen des Lockdowns

Wie viele Lebensjahre durch die Lockdown-Massnahmen gerettet werden, kann auf Basis der Angaben verschiedener Epidemiologen und Gesundheitsforscher angenähert werden.[iii] Wie tödlich das Virus genau ist, weiss man bis heute nicht exakt – was daran liegt, dass die Schätzungen für die Dunkelziffer Infizierter weit auseinander gehen. Für die Schweiz geht das BAG von einem Faktor 5 bis 10 für die Dunkelziffer aus. Daraus würde eine sogenannte «Infection Fatality Rate» (IFR) von 0,46% bis 0,92% resultieren (denn die «Case Fatality Rate», also die Zahl der Todesfälle relativ zu den bestätigten Infektionen liegt derzeit bei 4,6%).

Bei einer unkontrollierten Verbreitung der Seuche fiele die IFR wegen der Spitalüberlastung aber deutlich höher aus. Geht man von einer IFR von 1,2% aus (vgl. Berechnungen im Abschnitt «Demografie»), würde das bis zur Durchseuchung (6 Mio. Infizierte) zu 72’000 Todesfällen führen. Aufgrund der zeitweiligen Überlastung der Spitäler würden auch vermehrt Erkrankte mit besserem Ausgangswerten im Gesundheitszustand sterben. Angenommen wird daher eine Erhöhung der entronnenen Restlebensdauer von 4,3 auf 6 Jahre. Damit würde das Virus in diesem Szenario 432’000 Lebensjahre kosten. Eine Kontrolle der Pandemie rettet in der Schweiz also gut 415’000 Lebensjahre. So betrachtet war also der Lockdown bisher äusserst effektiv.

Wie sieht die Rechnung aus, wenn man diese geretteten Lebensjahre der Dauer, die die Einwohner unter dem jetzigen Lockdown-Zustand zu verbringen haben, gegenüberstellt?

Sollten für die dauerhafte Kontrolle der Pandemie nur 2 Monate Lockdown nötig sein, bedeutet das auf die gesamte Schweizer Bevölkerung bezogen, dass 1,43 Mio. Personenjahre Lockdown eingesetzt werden. Das sind 3,5 Lockdown-Personenjahre Lockdown pro gerettetes Lebensjahr. Bei 4 Monaten Lockdown würde sich dieses Verhältnis entsprechend auf 7 zu 1 verschlechtern, und sollten im nächsten Winter nochmal 4 Monate Lockdown nötig sein, fielen für jedes gerettete Lebensjahr 14 Personenjahre Lockdown an.

Diese Rechnung lässt sich (auch wenn ethisch fragwürdiger) bezogen auf die wirtschaftlichen Kosten machen. Das Seco schätzt die wirtschaftlichen (BIP-) Verluste des jetzigen Lockdown-Regimes auf 15 Mrd. Franken pro Monat. Bei einem zweimonatigen Lockdown sind das also 30 Mrd. Franken, was 72’000 Franken pro gerettetes Lebensjahr entspräche. Bei einem viermonatigen Lockdown würden die wirtschaftlichen Kosten wohl eher überproportional steigen. Man käme also auf eher über 150’000 Franken pro gerettetes Lebensjahr. Und ein nochmaliger viermonatiger Lockdown nächsten Winter würde die Einbussen auf gegen 400’000 Fr. pro gerettetes Lebensjahr erhöhen.

Diese Zahlen – ihre Einordung sei dem Leser überlassen – gelten wohlgemerkt nur, falls die Schweiz keine Herdenimmunität erdauern muss, sondern das Virus eingedämmt werden kann und nächstes Jahr ein wirksamer Impfstoff gefunden wird – was offenbar weniger sicher ist, als gemeinhin angenommen. Erfüllen sich diese Hoffnungen nicht, werden sich über kurz oder lang 6 Millionen Menschen anstecken müssen, bis Herdenimmunität erreicht ist. Bei einer IFR von 0,69% (Mitte der weiter oben genannten Bandbreite) und einer entgangenen Restlebensdauer von 4,3 pro Todesfall ergäbe sich bei einer dergleichen Flattening-the-curve-Strategie ein Verlust von 178’000 Lebensjahren, was gegenüber einer unkontrollierten Verbreitung noch einen Vorteil von 254’000 Lebensjahren ergäbe. Schon nächstes Jahr (nach 8 Monaten Lockdown) ergäben sich damit fast 23 Personenjahre Lockdown pro gerettetes Lebensjahr – und die Erreichung von Herdenimmunität bei einer die Spitalkapazitäten nicht überlastenden Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus dauert etwa 3 Jahre, nicht bloss eines.[iv]

Kurz und gut: Es ist zu hoffen, dass der Lockdown bald durch eine erfolgreiche Eindämmungsstrategie (Tracking, Testen, Masken) ersetzt werden kann und spätestens nächstes Jahr ein wirksamer Impfstoff bereitsteht. Nur so kann sich die Schweizer Politik und Gesellschaft von der Beantwortung äusserst unangenehmer ethischer Fragen und Abwägungen befreien.

[i] Dazu ein Gedankenbeispiel: Ein Virus, dass alle über 90-Jährigen augenblicklich tötet, und alle anderen unbehelligt lässt, würde temporär den Median der Sterbealter erhöhen, einfach weil die über 90-Jährigen dann alle gleichzeitig in die Statistik eingehen. Ihre Leben würden aber durch ein solches Virus offensichtlich trotzdem verkürzt.

 
[ii] Zum Vergleich: An der normalen Grippe sterben in der Schweiz jährlich zwischen 300 und 2500 Menschen.

 
[iii] Die hier genannten Zahlen sind der Übersichtlichkeit zuliebe absichtlich exakt gehalten, obwohl sie eher als Grössenordnungen zu verstehen sind.

 
[iv] Annahme: 800 bestätigte Neuansteckungen pro Tag. Dunkelzifferfaktor 7,5. Ergibt 6000 tatsächliche Neuansteckungen pro Tag. Ergibt 1000 Tage bis zur Herdenimmunität von 6 Mio. Personen.