Wie zielgerichtet sind die von den Kantonen ausgesprochenen Corona-Quarantäne-Massnahmen?

Um diese Frage zu beantworten, müsste man den Anteil jener Personen kennen, die während ihrer Quarantäne Symptome für eine Covid-19-Ansteckung entwickeln und anschliessend positiv getestet werden. Doch weder vom Bund noch von den meisten Kantonen gibt es verlässliche Angaben, um diese Schlüsselkennzahl des Schweizer Pandemie-Managements zu berechnen. Selbst das Total der seit Beginn der Pandemie ausgesprochenen Quarantäne-Anordnungen ist schwierig zu ermitteln.

Avenir Suisse hat deshalb bei allen Kantonen nachgefragt. Zudem haben wir auf der Grundlage der wöchentlichen Situationsanalysen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) die entsprechende Zahl schweizweit geschätzt.

Lückenhafte nationale Daten ab dem Sommer

Das BAG publiziert seit Juni wöchentlich einen Situationsbericht. Dabei wird jeweils auch die Anzahl der sich am Stichtag in Quarantäne befindenden Personen bekanntgegeben.

Die Quarantäne ist von der Isolation zu unterscheiden

In eine Isolation muss sich begeben, wer positiv auf Covid-19 getestet wurde. Eine Quarantäne trifft hingegen potenziell Infizierte, also Personen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Kontakt mit dem Virus gekommen sind, aber nicht positiv getestet wurden. Eine Quarantäne kann aufgrund der Rückkehr aus einem Risikoland erfolgen oder ärztlich verordnet werden (Stichwort: Contact Tracing). Beim derzeitigen Quarantäne-Regime dürfen betroffene Personen die eigenen vier Wände bis zu zehn Tage lang nicht verlassen.

Die nationalen Daten des BAG sind lückenhaft, da nicht immer alle Kantone die entsprechenden Informationen übermitteln. Dessen ungeachtet stellen diese Angaben derzeit eine der besten Möglichkeiten dar, eine ungefähre Zahl zu schätzen, wie viele Personen schweizweit mit einer Quarantäne belegt wurden. Gemäss unseren Berechnungen wurden in der Schweiz in weniger als vier Monaten über 200’000 Quarantänemassnahmen ausgesprochen (vgl. Grafik).

Die Angaben stammen aus den wöchentlichen Situationsberichten zur epidemiologischen Lage in der Schweiz und Liechtenstein. Bei den Daten zur Quarantäne handelt es sich um Momentaufnahmen. Das kumulative Total wurde deshalb um Doppelzählungen korrigiert. Wir haben dabei angenommen, dass sich Personen in einer ärztlich angeordneten Quarantäne durchschnittlich nur 7 Tage in Quarantäne befinden (keine Doppelzählungen) und Rückkehrer aus einem Risikoland 10 Tage (30% Doppelzählungen).

Der Grafik kann sowohl entnommen werden, wie viele Personen laut BAG jeweils am Stichtag in Quarantäne waren, sowie unsere Schätzung für das Total der ausgesprochenen Quarantänemassnahmen. Dabei haben wir angenommen, dass die effektive Dauer der Quarantäne bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten bei zehn Tagen liegt, da die Massnahme ab Ankunft in der Schweiz gilt.

Bei der ärztlich verordneten Quarantäne beginnen die zehn Tage jedoch ab dem letzten Kontakt mit einer infizierten Person. Dabei werden in der Regel alle Kontakte bis zu 48 Stunden vor dem Testzeitpunkt berücksichtigt. Da sowohl die Testverarbeitung als auch das Contact-Tracing jeweils Zeit brauchen, rechnen wir im Mittel mit einer Quarantänedauer von sieben Tagen.[1]

Wenig zielgerichtete Massnahme

Mit dieser Schätzung kann nun die Zielgenauigkeit des Schweizer Quarantäne-Regime besser eingeordnet werden. Zwischen Ende Juni und Anfang dieser Woche (Stand 19. Oktober) wurden in der Schweiz rund 50’000 Personen positiv auf Covid-19 getestet; unsere oben berechneten Quarantäne-Daten basieren auf dem Stand vom 13. Oktober.[2]

Wären sie alle vor ihrem Test in Quarantäne gewesen, wären trotzdem mindestens drei Viertel der Personen in Quarantäne nicht positiv getestet worden – sie wurden also gewissermassen vergeblich unter Quarantäne gestellt. Natürlich unterschätzt diese Zahl den Anteil an vergebens unter Quarantäne gestellten Personen massiv, denn nur ein Bruchteil der positiv getesteten Personen befand sich vor dem Testzeitpunkt in Quarantäne. Diese Zahl ist somit als eine absolute untere Grenze zu verstehen.

Das BAG hat einmal für kurze Zeit erhoben, wie viele Personen vor einem Test nicht in Quarantäne waren. Allerdings war die Erhebung fehlerhaft, denn bei jedem Covid-19-Test gilt bis zum Erhalt der Testresultate eine Art «Mini-Quarantäne», die in der Regel weniger als 48 Stunden dauert. Das Formular zur Erhebung der Daten wurde entsprechend fehlerhaft ausgefüllt.

Basierend auf den unveröffentlichten BAG-Daten sowie auf den Daten der Kantone Aargau und Glarus (siehe unten) können wir aber konservativ annehmen, dass weniger als ein Drittel der positiv getesteten Personen vor dem Test in Quarantäne war. In diesem Fall wären seit dem Sommer über 92% von mehr als 200’000 Personen in der Schweiz umsonst in Quarantäne gewesen.

Würde man diese Schätzung kurz nach den Sommerferien durchführen, wäre die Trefferquote viel schlechter. Nimmt man also nur die Quarantänedaten bis und mit 18. August, kommt man bei gleicher Methodik und mit der vorhin diskutierten Annahme von einem Drittel aller positiv getesteten Personen in Quarantäne auf einen Wert von 96%. Damit dürften damals weniger als 4% aller Personen in Quarantäne dann auch positiv getestet worden sein. Dieser niedrige Wert lässt vermuten, dass gerade die damals relativ häufig ausgesprochene Rückreise-Quarantäne alles andere als eine zielgenaue Massnahme darstellt.

Seit Beginn der Pandemie wohl über 260’000 Personen in Quarantäne

Wie erwähnt, erlauben die Daten des BAG nur eine ungefähre Schätzung. Zudem werden sie erst ab Juni standardisiert veröffentlicht. Um ein genaueres Bild ab Beginn der Pandemie zu erhalten, hat Avenir Suisse vergangene Woche die Gesundheitsdirektionen aller 26 Schweizer Kantone angeschrieben. Mit dem Hinweis auf das Öffentlichkeitsgesetz wollten wir in Erfahrung bringen, wie viele Personen bisher in einem Kanton unter Quarantäne gestellt wurden.

Diese Information geliefert haben 16 Kantone, von 10 Kantonen haben wir keine verwertbare Rückmeldung erhalten. In der Tabelle unten haben wir die Angaben der Kantone zu den ausgesprochenen Quarantäne-Massnahmen aufgelistet. Zudem haben wir die Zahlen in ein Verhältnis zur Bevölkerung gesetzt.


In den Kantonen, die Daten geliefert haben, wurden bisher rund 180’000 Quarantäne-Massnahmen verordnet. Das entspricht 3,15% der Bevölkerung dieser Kantone. Rechnet man diese Zahl basierend auf den Bevölkerungszahlen oder den Infektionszahlen hoch, waren seit Beginn der Pandemie 265’000 bis 270’000 Menschen in der Schweiz in Quarantäne.

Darüber hinaus haben wir die Kantone gefragt: Wie viele Personen werden während ihrer Quarantäne positiv getestet? Fast alle Kantone gaben an, diese zentrale Messgrösse zur Zielgenauigkeit der Quarantänemassnahmen nicht bestimmen zu können. Nur zwei Kantone haben Daten geliefert, und auch diese nur für die ärztlich verordnete Quarantäne.

Im Kanton Glarus wurden knapp 4% der Personen, die aufgrund des Contact-Tracings unter Quarantäne gestellt wurden, positiv auf das Coronavirus getestet; im Kanton Aargau schätzen die Behörden diese Zahl auf 6% bis 10%. Bei der Quarantäne wegen Rückreise aus einem Risikogebiet befinden sich derweil nicht nur der Bund, sondern auch die Kantone komplett im Blindflug.

Nachtrag – Vorbildlicher Kanton Glarus

Der Kanton Glarus hat bereits vergangene Woche ausführliche Daten gemeldet. Später hat die Staatskanzlei weitere interessante Informationen nachgeliefert:

  • Von 812 Personen, die im Kanton aufgrund von Contact-Tracing in Quarantäne waren, wurden 32 positiv auf das Coronavirus getestet (3,94%).
  • Von 545 Personen, die im Kanton aufgrund eines Aufenthalts in einem Risikoland in Quarantäne waren, wurden 4 positiv auf das Coronavirus getestet (0,73%).

Die Zahlen sind wegen der kleinen Stichprobengrössen mit Vorsicht zu interpretieren. Zudem ist die Bevölkerungsstruktur des Kanton Glarus nicht repräsentativ für die gesamte Schweiz.

Debatte über das Quarantäne-Regime dringend nötig

Zwei Schlussfolgerungen können aus dieser Analyse gezogen werden. Erstens ist es dringend nötig, dass Bund und Kantone die entsprechenden Quarantäne-Daten erheben und veröffentlichen. Nur so kann diese einschneidende Beschränkung der persönlichen Freiheit adäquat beurteilt werden. Es irritiert, dass keine einzige Behörde in diesem Land zu wissen angibt, wie viele Personen während ihrer Reiserückkehrer-Quarantäne positiv getestet wurden.

Zweitens muss auf der Grundlage der unvollständigen Daten festgehalten werden, dass die Massnahmen alles andere als zielgenau sind – bereits in einem früheren Beitrag haben wir festgestellt, dass das Schweizer Quarantäne-Regime einer juristischen Verhältnismässigkeitsprüfung nicht standhält.

Besonders vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen im Inland ist die Rückreise-Quarantäne grundlegend zu überdenken. Zudem ist die konkrete Ausgestaltung der Quarantäne-Massnahme anzupassen. So könnten beispielsweise Spaziergänge an der frischen Luft erlaubt werden. Das strikte Verbot, die eigenen vier Wände bis zu zehn Tage zu verlassen, ist weder angemessen noch erforderlich.

Dieser kritische Befund zum Schweizer Quarantäne-Regime stellt weder das Prinzip einer Test-and-Trace-Strategie noch jenes der Quarantäne in Frage. Doch für ein effektives Pandemie-Management ist es essenziell, dass der damit verbundene massive Eingriff in die persönliche Freiheit möglichst zielgenau erfolgt und entsprechend verhältnismässig ausgestaltet ist. Nur so wird das Schweizer Quarantäne-Regime auch langfristig von der Bevölkerung breit akzeptiert werden. Diese Tatsache wird auf eigene Gefahr ignoriert, denn ist die gesellschaftliche Akzeptanz einmal verloren, ist jedes Pandemie-Management zum Scheitern verurteilt.

[1] Siehe auch die vom Bundesamt für Statistik veröffentlichten Anzahl Tage, die ab Symptombeginn bis zur Eingabe des Covid-Codes in der SwissCovid-App im Mittel vergehen.

[2] Um das richtige Verhältnis zu berechnen, müssen die Quarantänezahlen um einen Zeitfaktor (Inkubationszeit plus Zeit bis positives Testresultat vorliegt) korrigiert werden – also Infektionszahlen(t)/Quarantänezahlen(t-Zeitfaktor).