Swiss Life Update: Jérôme Cosandey, wo genau liegen die Herausforderungen in der zweiten Säule?

Jérôme Cosandey: Seit der Einführung des BVG zu Beginn der Achtzigerjahre haben sich die Bedingungen und das Umfeld stark verändert. Beispiele dafür sind die Individualisierung der Gesellschaft im beruflichen und privaten Umfeld, die Alterung der Bevölkerung (höhere Lebenserwartung und sinkende Geburtenrate) sowie tiefere Renditen am Kapitalmarkt. Die Gesetzgebung hat hier nicht überall Schritt gehalten, dies gilt es nun nachzuholen.

Was sind denn die Mittel, um dieses Ungleichgewicht wieder ins Lot zu bringen?

Man kann sich die berufliche Vorsorge als ein Schiff auf einer langen Fahrt vorstellen. Kurzfristig gilt es, das Leck im Tank zu flicken: So muss der Umwandlungssatz angepasst werden, da er weder die aktuelle Lebenserwartung noch die Marktrendite korrekt wiedergibt. Ohne Korrekturen geht dem Schiff vor dem Ziel der Treibstoff aus. Mittelfristig sollte es ausserdem agiler werden: Das BVG muss die individuelle Lebensführung der Versicherten besser berücksichtigen.

Wie kann man die Alterung der Gesellschaft im BVG abfangen, und wie kann man die Renten sichern?

Rentenkürzungen haben kaum Chancen, das hat die Abstimmung im März 2010 gezeigt. Also bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten: mehr oder länger sparen. Nur: Mehr sparen führt zu kleineren verfügbaren Einkommen, was nicht nur im Portemonnaie zu spüren ist, sondern auch eine Verschlechterung der Standortattraktivität zur Folge hat.

Dann bleibt also nur noch eine Möglichkeit: länger sparen. Was genau meinen Sie damit?

Einerseits kann mit dem Sparprozess früher begonnen werden. Vor allem aber geht es darum, länger zu sparen. Das Rentenalter 65 wurde 1948 eingeführt, seither ist die Lebenserwartung um mehr als 50% gestiegen (siehe Grafik). Ausserdem leben wir länger gesund als noch vor ein paar Jahren: Man kann den Ruhestand also ganz anders geniessen.
Das sind Gründe, die eine Erhöhung des Rentenalters vertretbar machen. Elf OECD-Länder haben diesen Schritt bereits beschlossen und das Rentenalter auf 67/68 Jahre erhöht. Eine allfällige Erhöhung müsste jedoch mit der AHV koordiniert werden.

Was würde denn passieren, wenn man nichts tut?

Dann würde das Schiff unweigerlich irgendwann sinken. Bereits heute werden die zu hohen Renten mit über 600 Millionen Franken pro Jahr quersubventioniert. Diese Zahl ist eine konservative Rechnung des Bundes. Realistischer ist
eher eine Milliarde Franken jährlich, und diese Zahl wird mit der weiter steigenden Lebenserwartung in Zukunft noch mehr zunehmen. Die Vollversicherung erfreut sichsteigender Beliebtheit, obwohl diese Garantie etwas kostet.

Wie erklären Sie sich das?

Die heutige Zeit ist von unsicheren Wirtschaftsprognosen geprägt: Viele Länder sind in einer Rezession, Europa kämpft mit der Schuldenkrise, und der Franken bleibt stark. Viele Unternehmen sind in ihrer Planung mehr denn je gefordert. Deswegen wollen vor allem KMU die Komplexität reduzieren, sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren und sich nicht noch mit den Anlagen und der Verwaltung einer eigenen Pensionskasse beschäftigen. Zudem kostet auch die Sanierung einer Pensionskasse etwas (siehe Grafik). Diese Kosten könnten sich laut einer Studie von Ernst & Young viele KMU gar nicht leisten – die Vollversicherung ist also Teil des Risikomanagements. Ausserdem wissen die KMU aus ihrem eigenen Geschäft, dass Garantien etwas kosten. Und für diese Sicherheit zahlen sie gerne etwas.

Dennoch sind Versicherer wie Swiss Life als Anbieter der Vollversicherung immer wieder harter Kritik ausgesetzt. Warum ist das so, wenn das Angebot doch einer Nachfrage entspricht?

Es sind vorwiegend ideologische Gründe, die dazu führen. Manche Kreise wünschen sich eine staatliche Einheitskasse im BVG.

Wer sonst könnte dann diese Garantien übernehmen? Etwa der Staat?

Kaum. Ich glaube auch nicht, dass sich Staat und Politik eine solche Lösung wünschen. Denn: Die öffentliche Hand müsste in schlechten Anlagejahren mit Steuergeldern einspringen, während die Gewinne in guten Jahren bei den Privaten verbleiben würden. Sicher ist: Das Bedürfnis der KMU nach Sicherheit wird auch morgen bestehen. Schliesslich würde die Abschaffung der Vollversicherung dazu führen, dass die Risiken wieder von den Aktionären der Versicherungsgesellschaften zurück auf die Unternehmen und deren Angestellte transferiert würden. Wie KMU darauf reagieren würden, und mit welchen Folgekosten, bleibt eine offene Frage.

Dieses Interview erschien am 6. Juli 2012 im Kundenmagazin der
«Swiss Life Update».