Die Schweiz hat die Krise besser überstanden als die meisten ihrer Wirtschaftspartner. Der globalen Entwicklung kann sie sich deswegen natürlich nicht entziehen. Die Aufhebung der Untergrenze für den Franken-Euro-Kurs und die entsprechenden Folgen haben dies allen bewusst gemacht. Die relativ bessere Performance der Schweiz in Verbindung mit einem schon hohen Ausgangsniveau war leider in vielerlei Hinsicht sogar mehr Fluch als Segen. Sie hat den Neid weiter geschürt, sie hat zur falschen Diagnose geführt, der schweizerische Erfolg basiere hauptsächlich auf Trittbrettfahren und unlauterem Wettbewerb, sie liess daher den internationalen Druck auf die Schweiz in bis dahin nicht gekanntem Ausmass anschwellen. Die Schweiz, so muss man konstatieren, ist eine, wenn nicht gar die grosse Verliererin des Endes des Kalten Krieges, denn sie ging damit ihrer Sonderstellung und der ihr entgegengebrachten Nachsicht verlustig.
Aber schlimmer als alles, was der Erfolg der Schweiz im Aussenverhältnis bewirkt hat, ist das, was er im Innern angerichtet hat. Zum einen werden wir von vielen Selbstzweifeln und grosser Zerrissenheit geplagt, zum anderen entwickeln wir, entwickeln grosse Teile der Bevölkerung eine unglaubliche Geringschätzung gegenüber der ungewöhnlichen Leistung dieses Landes. Es konnte sich aus zwei Kriegen heraushalten –das ist nichts, für das man sich schämen müsste, auch wenn man sich dabei natürlich keine blütenweisse Unschuld bewahren konnte – und es hat sich aus einem Armenhaus zu einem der reichsten, wettbewerbsfähigsten und innovativsten Länder der Welt entwickelt.
Doch im Luxus gedeiht die «Frivolität des Denkens» (Markus Spillmann in der NZZ): Irgendwie scheinen sich zu viele nicht bewusst zu sein, worauf all das beruht. Es ist kaum übertrieben zu sagen, die Schweiz entwickle eine masochistische Lust an der Selbstzerstörung. Zumindest leidet sie am Buddenbrooks-Syndrom: der Vorstellung, man könne, weil es einem gut geht, konsumieren, verteilen und sich um alles andere als die Produktion von Wohlstand kümmern, nämlich um «höhere» Anliegen wie Kultur, Umwelt, Gerechtigkeit oder Armut. Gepaart ist das mit einer schnöden Verachtung nicht nur des Mammon, das ginge ja noch, sondern der Wirtschaft, des Unternehmertums, des Finanzwesens. Dabei war Wirtschaftsfreundlichkeit ein Alleinstellungsmerkmal und Erfolgsfaktor der Schweiz neben Neutralität, Föderalismus, Direkter Demokratie und Milizidee. Nicht nur «Der Staat, das sind wir alle», sondern auch «Die Wirtschaft, das sind wir alle» unterschied die Schweiz von Nationen mit feudaler und/oder klassenkämpferischer Tradition. Deswegen waren die – früher deutlich weniger zahlreichen – wirtschaftsfeindlichen Initiativen praktisch nie von Erfolg gekrönt. Vor diesem Hintergrund kippen wir in drei Spannungsfeldern zunehmend auf die falsche Seite. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, ein Alles-oder-nichts, aber die rechte Mischung geht verloren.
1_ Zukunftsfeindliches Sicherheitsstreben
Zwischen Risiko und Sicherheit schlagen wir uns zunehmend auf die Seite der letzteren, jedenfalls in Politik und Gesellschaft. Dass wir im Privaten mit möglichst riskanten Sportarten den ultimativen Kick suchen, macht das Ganze fast absurd. Dem Sicherheitsstreben entspringt ein Hang zur Überregulierung, der von den Unternehmen gerne mitgetragen wird, wenn sie sich daraus Vorteile gegenüber der Konkurrenz erwarten – kein Beitrag zur Glaubwürdigkeit. Aus dem Sicherheitsstreben entstehen auch so zukunftsfeindliche Tendenzen wie eine Energiewende, die nicht offen bleibt für neue Technologie-Entwicklungen, auch in der Kernenergie, und es wächst aus ihm jene Technikfeindlichkeit, die dazu führt, dass die Schweiz wohl als Forschungs- und Patentstandort gedeiht, dass aber die Umsetzung in marktfähige Produkte oft anderswo erfolgt. Auch der paternalistische Betreuungs- und Bevormundungsstaat mit seiner Sorge um unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit, mit seinen Verboten und Empfehlungen, entspringt der gleichen Haltung. Und sogar unser Umgang mit wirtschaftlichem Scheitern ist Ausfluss einer Haltung, die das Eingehen von Risiken – wenn es schiefgeht – fast für unmoralisch hält. Das grösste Risiko einer Gesellschaft ist jedoch die Risikoaversion – leider bewegen wir uns in diese Richtung.
2_Hang zur Gleichmacherei
Ein weiteres ist unser zunehmender Hang, die Gleichheit höher zu schätzen als die Unterschiede. Ich lasse hier die «Gerechtigkeit» und den «Neid» bewusst beiseite, beides emotionale Kampfbegriffe, auf die das Bedürfnis nach mehr wirtschaftlicher Gleichheit zurückgeht. Was zunehmend vergessen geht, ist, dass durch Umverteilung geschaffene Gleichheit, ja nur schon eine starke Angleichung der Einkommen und Vermögen, fast jedem Grundsatz der Gerechtigkeit völlig widerspricht. Wer die unglaubliche Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Menschen als Reichtum empfindet, wer nicht meint, Gott spielen und das Ungleiche einebnen zu müssen, wird Umverteilung einzig einsetzen, um den Zugang zur Bildung für alle offenzuhalten und um zu verhindern, dass in einer reichen Gesellschaft Menschen unverschuldet darben müssen – aber kaum darüber hinaus. Nur: für diese Haltung braucht es heutzutage leider schon fast Mut, ebenso wie für die Aussage, grosses Elend sei zwar stossend, nicht jedoch grosser Reichtum.
Der Hang zur Gleichmacherei ist eine veritable Gefahr für die Schweiz, denn so sehr die Gleichheit vor dem Gesetz eine menschliche Errungenschaft ist, so sehr widerspricht die künstliche Einebnung des Wohlstands der Menschlichkeit. Sie führt in die totalitären Utopien eines Plato oder eines Thomas Morus.
3_ Geringschätzung der Offenheit
Schliesslich müssen wir aufpassen, dass wir in der Abwägung zwischen Offenheit und vermeintlich identitätssichernder Abschottung nicht zu sehr in letztere kippen. Dabei verdient die Sorge um die Bewahrung der Identität durchaus Verständnis. Es gibt per definitionem kein Land, das nicht Grenzen pflegt, das nicht unterscheidet zwischen «sie», also den anderen, und «wir». Die meisten Länder tun das anhand der gemeinsamen Sprache, Kultur und Religion sowie auf der Basis natürlicher Grenzen wie grossen Flüssen, Gebirgsketten oder dem Meer. Das Bemühen der Schweiz, sich abzugrenzen, ist also ebenso verständlich wie der Versuch, dies mittels dem zu tun, was das Land verbindet und von anderen unterscheidet, also mittels der gemeinsamen Geschichte, auch den Mythen, und den politischen Institutionen. Aber zugleich sind Offenheit, Austausch und Diversität Grundlagen von Innovation und Wohlstand – gerade in der Schweiz. Wir sollten daher nicht mutwillig zerstören, was uns dorthin gebracht hat, wo wir heute stehen. Das war zwar auch die Tüchtigkeit der Menschen, und das war auch der glückliche Zufall der Geschichte, aber es war ohne Zweifel in grossem Ausmass auch die Zuwanderung. Wäre die Schweiz nicht – kontrolliert – offen gewesen, nähme sie heute wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell einen wesentlich weniger prominenten Platz ein. Wir entwickeln diesbezüglich leider eine ungesunde Vergesslichkeit.
Es braucht eine Vorwärtsstrategie
Die Scheu vor Risiko, Ungleichheit und Offenheit ist Ausdruck eines bewahrenden Denkens, das Verwöhnung und Sattheit reflektiert. Bewahrung bedeutet auf Dauer stets Rückschritt, relativ zu den anderen, aber auch in absoluten Zahlen. Die grösste Gefahr für die Schweiz lauert zurzeit in der Selbstzufriedenheit. Ob es um die Altersvorsorge geht oder den Föderalismus, die Steuern oder die Energie – was uns fehlt, ist eine dynamische Vorwärtsstrategie. Damit meine ich explizit nicht den phantasielosen Drang in die EU.
Eine veritable Vorwärtsstrategie bestünde darin, zum einen den Begriff der «Schweiz als Kleinstaat » positiv zu besetzen und, statt an Provinzialität, Bodenständigkeit und Kleinheit zu leiden, aus der Lage, der Geschichte, den Besonderheiten und nicht zuletzt der Kleinheit des Landes Kapital zu schlagen, im wörtlichen, aber vor allem im übertragenen Sinne. Zum anderen müsste diese Strategie ein eigentliches Reformprogramm beinhalten, das den missionarischen Reformverhinderern von links bis rechts Paroli bietet. Es müsste ein breites, umfassendes Paket sein, das Aufbruchwille signalisiert und Aufbruchstimmung verbreitet (vgl. Reformbeispiele).
Gerade vor dem Hintergrund einer mit geldpolitischen Drogen hochgepumpten europäischen Wirtschaft und des Drogenentzugs, den die Schweizerische Nationalbank praktiziert, braucht es eine nachhaltige, breit angelegte Stärkung der Wirtschaft, eine Verwesentlichung der Politik und eine nationale Kohäsion auf der Basis jenes ordnungspolitischen Modells, das die Schweiz zum Erfolg geführt hat, eines Modells, das Leistung schätzt und belohnt und das zugleich die Hilfsbedürftigen nicht vergisst.
Gekürzter Vortrag zum Thema «Wirtschafts- und Staatspolitische Reflexionen», Bad Ragazer Verwaltungsratstage, 29.11.2014. Der Beitrag erscheint auch in «avenir sélection 2014/2015».