Die Förderung ausgewählter Industrien ist in Bundesbern wieder einmal hoch im Kurs. Nach diversen parlamentarischen Vorstössen wird das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) demnächst einen Bericht dazu veröffentlichen. Viel Positives über solche Industriepolitik wird darin kaum stehen, denn die Schweiz hat sich immer wieder die Finger damit verbrannt. Kaum ein Beispiel zeigt das eindrücklicher als die Geschehnisse rund um den einstigen Atomreaktor im waadtländischen Lucens.

Begonnen hatte diese Episode kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als es bei der Nukleartechnologie zu revolutionären Durchbrüchen kam. An dieser Entwicklung wollte die Schweizer Politik nicht nur teilhaben, sondern sie prägen. Dafür wurde jedoch nicht auf eine liberale Wirtschaftspolitik gesetzt, sondern eine industriepolitische Initiative lanciert – und diese missglückte zünftig. Das Scheitern spielte sich dabei in fünf Phasen ab.

Kontrollraum im Kernkraftwerk Lucens. 1968. (ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

  1. Die Euphorie-Phase: Am Anfang stehen meist vollmundige Versprechen, entweder über die Bewahrung einer Traditions- oder den Aufbau einer Zukunftstechnologie. Beim Atomreaktor Marke Eigenbau ging es um Letzteres. Die Hoffnung auf eine Schweizer Reaktortechnik beflügelte die Politik spätestens seit Beginn der 1950er Jahre. Das ist wenig überraschend, denn die neue Technologie versprach nichts weniger als den Beginn eines neuen Energiezeitalters.
  2. Die Phase der «Fear of missing out» (Fomo): Nahtlos an die Euphorie über eine neue Technologie setzt jeweils die Angst ein, etwas zu verpassen. Wegen der Nukleartechnologie sahen sich etwa Teile der Schweizer Industrie plötzlich in ihrer Wettbewerbsfähigkeit bedroht. Mit den ersten Atom-U-Booten kam die Befürchtung auf, Atomkraft würde bald weitere Verkehrsmittel antreiben. Das hätte die Schweizer Maschinenbauer stark betroffen, da sie im Kesselbau aktiv waren oder Dieselmotoren für Schiffe produzierten. Es galt also, möglichst rasch auf den bereits fahrenden Zug aufzuspringen.
  3. Die «Kuhhandel»-Phase: Euphorie und Angst verleiten dann zu einem industriepolitischen Aktivismus, der meist in einem schlechten Kompromiss endet. Bei der Atomenergie-Episode reichten bald Industriekonsortien Subventionsgesuche für Versuchsreaktoren ein. Schliesslich unterstützte der Bund einen Kompromiss aus zwei Gesuchen, die eine Eigenentwicklung vorsahen. Ein Gesuch, das auf einen ausländischen Reaktor setzte, wurde abgelehnt – schliesslich steht bei der Industriepolitik das Wohl der heimischen Firmen im Zentrum.
    Zudem verknüpfte der Bund seine Subventionen an die Bedingung, dass alle Gesuchsteller sich in einer Dachgesellschaft vereinen. Ziel war es, die Wahl des Reaktors der Industrie zu überlassen, weil der Verwaltung das Wissen fehlte. Was gut gemeint war, endete nicht gut. Wegen der politisierten Dachgesellschaft wurde am Schluss nicht der beste Reaktor gebaut, sondern jener, der im Wettstreit der Partikularinteressen bestehen konnte.
  1. Die Ernüchterungs-Phase: Ist der politische Kompromiss aufgegleist, kommen nach und nach Probleme zum Vorschein. Im Fall des Schweizer Atomreaktors stiegen die Kosten stetig, unter anderem wegen Verfehlungen des Baukonsortiums. Da die Baufirmen in der Dachgesellschaft integriert waren, konnten sie nicht ausgeschlossen werden. Der Bund sah sich gezwungen, wiederholt Nachtragskredite zu gewähren.
    Gleichzeitig wurde immer deutlicher: Dieser helvetische Alleingang wird sich nicht auszahlen. So zeichnete sich etwa ab, dass die Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK) in Beznau auf einen eingekauften amerikanischen Reaktor setzen würden. Die Zielgruppe der Schweizer Reaktortechnik zog also die ausländische Konkurrenz vor – zurecht, wie sich schliesslich herausstellen sollte.
  1. Die «Bis zum bitteren Ende durchhalten»-Phase: Der Ernüchterung zum Trotz wird in dieser letzten Phase stur am industriepolitischen Kurs festgehalten. So gab der Reaktor in Lucens erst im Januar 1968 Strom ins Netz, rund ein Jahr vor Beznau. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass der in Lucens gebaute Reaktortyp technologisch und kommerziell nicht mit ausländischen Reaktoren mithalten konnte. Trotzdem stoppte die heimische Industrie das zum Scheitern verurteilte Projekt nicht – sie fürchtete ein Ausbleiben künftiger Subventionen.
Kernkraftwerk Versuchsreaktor Lucens, ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv.

Versuchsreaktor Lucens, 1968. Wenige Monate nach dieser Aufnahme ereignete sich im Kernkraftwerk ein Unfall, der zur Stilllegung der Anlage führte. (ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Doch allzu lang liess sich das atomare Potemkinsche Dorf nicht aufrechterhalten. Die unterlegene Technik zeigte, dass sie aus gutem Grund unterlegen war. Am 21. Januar 1969 platzte in Lucens ein Druckrohr wegen Überhitzung, Uran trat aus. Das Ganze war keine Lappalie: Der Unfall zählt weltweit zu den 20 gravierendsten nuklearen Ereignissen. In der Folge blieb den Verantwortlichen nichts anderes übrig, als den Reaktor stillzulegen und einzubetonieren. Damit musste einmal mehr eine industriepolitische Initiative – in diesem Fall wortwörtlich – begraben werden.

Dieser Beitrag ist am 19. Mai 2024 in der «NZZ am Sonntag» erschienen.