Bei der Bewältigung der sprunghaften Aufwertung des Schweizer Frankens spielt der Arbeitsmarkt eine Schlüsselfunktion. Mit einem Stellenabbau auf breiter Front stiege auch die Gefahr einer schädlichen Deflationsspirale, denn eine zunehmende Arbeitslosigkeit (bzw. die Angst davor) würde über kurz oder lang den Konsum schwächen. Von einem solchen Szenario ist die Schweiz aber noch weit entfernt.
Grundsätzlich gilt der Schweizer Arbeitsmarkt europaweit als einer der flexibelsten. Obwohl der Anteil zentral ausgehandelter Löhne und Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren zugenommen hat, vollzieht sich die Lohnbildung noch immer überwiegend dezentral. Das heisst, dass sich die Löhne – zumindest mittel- bis langfristig – am Gesetz von Angebot und Nachfrage orientieren können. Die Schweiz kennt zudem keinen generellen Kündigungsschutz, unter dem die Arbeitsmärkte vieler EU- Länder so dramatisch leiden. Aber auch der Schweizer Arbeitsmarkt ist meilenweit von der Funktionsweise eines reinen Spotmarktes (wie zum Beispiel dem Erdölmarkt) entfernt. Dieser Eigenheit kommt in der aktuellen Situation besondere Bedeutung zu.
Ein Stabilisator in unsicheren Zeiten
Schweizer Firmen betreiben in aller Regel keine «Hire-and-Fire»-Politik, d.h. sie passen ihren Personalbestand nicht laufend der Nachfrage an, sondern verstetigen ihre Beschäftigung über die Zeit. Diesem als «Horten» bekannten Phänomen können vielfältige Motive zugrunde liegen.
- Entlassungen und spätere Wiedereinstellungen sind aus Sicht der Firmen äusserst kostspielig, vor allem wenn qualifizierte Stellen betroffen sind.
- Horten ist eine Art ökonomischer Risikoteilung. Die Arbeitnehmer verlassen sich darauf, dass sie nicht bei jeder Nachfrageschwankung mit der Kündigung rechnen müssen. Im Gegenzug halten sie sich bei starker Nachfrage mit Lohnforderungen zurück und sind allenfalls bereit, Überstunden zu leisten. Langfristig werden dadurch so sowohl der Gewinn der Firma als auch das Einkommen der Arbeitnehmer geglättet.
- Das Horten von Arbeitnehmern ist für viele nicht zuletzt ein Gebot sozialer Fairness.
Aus ökonomischer Sicht ist Horten eine effiziente und durchaus erwünschte Strategie. Neben der makroökonomischen Stabilisierung vermindert sie den Verlust wertvoller Arbeitskräfte und legt die Basis für künftiges Wachstum. Ebenso wichtig ist, dass sie psychisches und physisches Leid durch Arbeitslosigkeit verhindert. Vieles deutet darauf hin, dass aktuell einige Arbeitsplätze gehortet werden, denn bisher blieben Stellenverluste die Ausnahme. Die saisonbereinigte Arbeitslosenquote verharrte Ende März 2015 auf 3,2% – dem Stand des Vormonats.
Die oben beschriebenen Zusammenhänge sind auch an den gesamtwirtschaftlichen Aggregaten unschwer zu erkennen. Während die Schwankungsbreite der realen jährlichen BIP-Wachstumsraten in der Periode 1992 – 2014 (gemessen an der Standardabweichung) 1,9% betrug, variierte die Erwerbstätigkeit gemäss der gleichen Masszahl nur um 1,1%. Diese Differenz hat eine weitere messbare Konsequenz: Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität verläuft prozyklisch. Im Abschwung sinkt der Output pro geleistete Arbeitsstunde, weil die (gehorteten) Arbeitskräfte nicht voll ausgelastet werden können. Im Aufschwung gilt das Umgekehrte. Aus diesem Grund gilt der Arbeitsmarkt als der Konjunktur nachlaufend wirkt damit wie ein automatischer Stabilisator der Wirtschaftsentwicklung.
Starre Nominallöhne
Hinzu kommt ein weiteres Phänomen. Nominallöhne sind nach unten starr. Sie werden in aller Regel nicht gesenkt, zumindest nicht in bestehenden Arbeitsbeziehungen. Erklärungen für die Ursachen der «Nominal Wage Rigidity», die erstmals von Keynes (1936) explizit beschrieben wurde, gibt es zahlreiche, etwa die Angst der Arbeitgeber vor einer sinkenden Arbeitsmoral oder dem Verlust der besten Kräfte. Ihre Folge ist eindeutig: Ein Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt kann nicht über Preise (Lohnsenkungen) sondern nur über Mengen (Arbeitskräfte) behoben werden, d.h. über Entlassungen.
Auch auf dem sonst beweglichen Schweizer Arbeitsmarkt sind die Nominallöhne nach unten starr. Der «Schweizerische Lohnindex» des Bundesamts für Statistik, der den «reinen» Preis der Arbeit misst, ist in den 76 Jahren seines Bestehens nominal kein einziges Mal gesunken, nicht einmal in der tiefen Rezession von 1975, als die Beschäftigung um mehr als 10% einbrach. Reallöhne können hingegen durchaus gesenkt werden, indem der nominale Lohnanstieg unter der Teuerung gehalten wird. Dies geschah – wie aus der Grafik ersichtlich ist – in der Schweiz seit 1980 immerhin in neun Jahren. Allgemeiner lässt sich sagen, dass eine massvolle Teuerung die Flexibilität der Reallöhne und damit die Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarktes erhöht.
Eine Analyse für den Zeitraum 1992 – 2014 zeigt, dass – bei gleicher Arbeitsmarktlage – die Teuerung im Mittel nur zur Hälfte auf die Nominallöhne überwälzt wurde. Die Reallöhne glitten im Durchschnitt um 0,5% pro 1% Inflation zurück. In der Tendenz gilt also: Die Reallöhne steigen in Zeiten tiefer Inflation und fallen bei hoher Geldentwertung.
Diese Betrachtungen unterstreichen die besondere Brisanz der aktuellen Situation. In Zeiten negativer Teuerung fällt es Unternehmen besonders schwer, konkurrenzfähig zu bleiben, denn stabile Nominallöhne kommen bei Deflation einem Reallohnwachstum gleich. Höhere Arbeitszeiten bei gleichem Nominallohn, wie dies da und dort praktiziert wird, ist nichts anderes als eine Reallohnsenkung mit anderen Mitteln. Als «ultima ratio» ist dies legitim, es wäre aber zu hoffen, dass den Mitarbeitern auch die freiwillige Möglichkeit eines individuellen Lohnverzichts offen stünde.
Strukturwandel als langfristiger Erfolgsfaktor
Die stabilisierende Funktion des Arbeitsmarktes wirkt nur, solange der Nachfrageeinbruch als vorübergehend erachtet wird. Ein dauerhafter Rückgang von Nachfrage (und Produktion) wird, ja muss, früher oder später einen Beschäftigungsabbau zur Folge haben. Auch wenn Entlassungen im Einzelfall immer schmerzen, sind sie längerfristig unausweichlich, wenn sich bestimmte Produktionsprozesse oder Wirtschaftsstrukturen auf Dauer nicht in der Schweiz halten lassen. Der Erfolg der Schweiz beruht gerade darauf, dass sie den Strukturwandel immer wieder zugelassen und nicht durch staatliche Eingriffe (z.B. Beschäftigungsgarantien oder Subventionen) unterbunden hat. Der Strukturwandel wird sich in der Schweiz wohl intensivieren, sollte sich die abrupte Frankenaufwertung als dauerhaft herausstellen.
Der Entscheid darüber, ob oder ab welchem Zeitpunkt ein Nachfragerückgang dauerhaft erachtet wird, liegt letztlich bei den Unternehmensleitungen. Die jeweilige Antwort ist für die weiteren «Stakeholder» aber nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, erst recht nicht für Aussenstehende wie die Politik, Interessensverbände und die breite Öffentlichkeit. Strukturanpassungen, Arbeitsplatzabbau oder Produktionsverlagerungen ins Ausland werden nur dann akzeptiert, wenn die Entscheidungsträger glaubhaft darlegen können, dass sie unumgänglich sind. In dieser asymmetrischen Informationslage setzt Glaubwürdigkeit zwingend Vertrauen voraus, im vorliegenden Fall Vertrauen darin, dass die schwierige Situation (die Frankenaufwertung) nicht zum einseitigen Vorteil des Unternehmens ausgenützt wird. Solche Überlegungen zeigen einmal mehr, dass nachhaltiges marktwirtschaftliches Handeln eine solide Vertrauensbasis voraussetzt. Der oft diagnostizierte Vertrauensschwund zwischen Wirtschaft, Politik und Bevölkerung könnte den nötigen Strukturwandel erschweren und verlangsamen. Umso mehr muss alles daran gesetzt werden, verlorenes Vertrauen wieder aufzubauen. Unter den gegebenen Umständen ist auch entscheidend, dass die Firmen in der Umsetzung anderer produktivitätsverbessernder oder kostensenkender Massnahmen nicht behindert werden.