Im deutschen Wahlkampf hörte man von Beobachtern, Deutschland sei in der Ära der «Postpolitik». Es würden keine Gesellschaftsentwürfe mehr diskutiert, die Zukunft werde nicht thematisiert. Da die Welt bedrohlich erscheine, werde die Illusion erweckt, alles bleibe beim Alten – und dies trotz wichtiger anstehender Entscheidungen etwa bezüglich Europa.

In Amerika spricht man von «posttruth politics». Barack Obamas Slogan «Yes we can» appellierte 2008 noch an die Gestaltungskraft der Politik; doch auch der US-Präsident reagierte hernach vor allem auf Ereignisse.

In der westlichen Welt, so scheint es, definiert die Politik zurzeit keine längerfristigen Ziele; sie regelt bloss anstehende Probleme. Die Bürger erleben Politik als belanglose Kulisse, da ein ideeller Kampf um die bessere Vision nicht ausgetragen wird. Der Politik fehlt es an Leidenschaften. Als Ventil bleibt der Populismus rechtskonservativer, nationalistischer Parteien, die für eine nostalgische Scheinwelt kämpfen.

Das Phänomen ist auch hierzulande erkennbar. Die letzten zwei Jahre buchstabierte man schrittweise zurück beim Bankkundengeheimnis und der Frage, wie dem Druck aus den USA, der EU oder der OECD zu begegnen sei. Die politische und wirtschaftliche Elite versucht, Kurzfristprobleme zu meistern. Oft entsteht der Eindruck, die Schweiz habe nur noch zu verlieren und die goldene Zeit liege hinter ihr. Über die Zukunft des Landes hört man wenig.

Von der Postpolitik in der übrigen westlichen Welt unterscheidet sich die Schweiz aber durch das Ventil der Volksrechte, besonders das Initiativrecht. Dadurch wird die Politik des Bundesrates nicht nur durch Druck von aussen und die Globalisierung geprägt. Der Politkalender der beiden letzten Jahre war wesentlich durch Initiativen bestimmt, bei denen sich das Volk militanter und unruhiger zeigte als früher; etwa die Zweitwohnungs- und die Minder-Initiative.

Mit wachsendem Misstrauen betrachten die Bürger die sich jagenden Stellungnahmen der Politiker und Wirtschaftsgrössen. Der Bundesrat hat zwar in der letzten Zeit grössere Reformen angepackt (Asyl, Sozialversicherungen, Unternehmenssteuerreform, institutionelle Abkommen mit der EU), erklärt diese aber kaum als positive Herausforderung. Eher wirkt er, als würden ihm die Reformen aufgedrängt. Die Parteien widmen sich dem Schlagabtausch in den Medien, statt längerfristige Lösungen zu zeichnen. Ihr zentrales Anliegen scheint es zu sein, Schutz vor dem Wandel zu bieten. Der politische Betrieb bewegt sich in Richtung einer immer kurzfristigeren Perspektive. Diesen Zustand nennt der Soziologe Hartmut Rosa «rasenden Stillstand».

Die global und liberal agierende Schweiz wird sich in der zweiten Legislaturhälfte an Wunschbildern einer traditionell orientierten Schweiz reiben. Bei mehreren Vorlagen in nächster Zeit («1:12»-Initiative, Mindestlohninitiative, Einwanderungsinitiative, Ecopop-Initiative) spielt diese Spannung mit. Wie sich in dem Feld behaupten und bewegen? Die entscheidenden Rollen fallen dem Bundesrat und den Parteien zu. Sie sollten wieder Hoffnung verkörpern.

Eine optimistische, angstfreie Politik würde auf drei Pfeilern beruhen. Sie sollte erstens ein Zukunftsbild der Schweiz zeichnen. Wer das Schweigen zum Thema Zukunft bricht, hat gute Chancen, die Debatte anzuführen und zum politischen Hoffnungsträger von morgen aufzusteigen.

Diese Art Politik glaubt an eine bessere Schweiz. Und sie vermittelt zweitens die Globalisierung als Zukunftshoffnung. Sie thematisiert die Anpassung der Schweiz an die Erfordernisse der globalen Welt und zeigt die positiven Perspektiven.

Drittens geht es um Vertrauensbildung. Nicht das Volk muss sich ändern, sondern die Qualität der Politik. Die Politiker müssen das Zeitgeschehen erklären. Die Zeit des Klamauks muss enden. Das Volk wird solchen Politikern wieder zuhören.

Wer der Postpolitik entgegenwirken will, muss Möglichkeiten bieten. Eine Wahl. Im Zentrum sollte die Wiederbelebung des Fortschrittsgedankens stehen. Der urliberale Wert ist aus der politischen Debatte verschwunden. Wer den Status quo als Optimum betrachtet, vermittelt den Eindruck, dass es nur Stillstand oder Rückschritt als Alternativen gibt.

Dieser Artikel erschien im «Tagesanzeiger» vom 24.10.2013 
unter dem Titel «Der Klamauk muss enden».